Mathematik

Was hat Gilgamesch mit Analysis zu tun und in welcher Verbindung steht Bertold Brecht mit den Winkelfunktionen Tangens und Cosinus? Diese Frage beantwortete sich mir an einem Tag im Mai 1989 auf wunderliche Weise, obwohl ich sie nicht gestellt hatte. Bertold Brecht stellte hierbei die geringste Überraschung dar, denn es war der Tag meiner mündlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch. Ich war vorbereitet, hatte mein Kurzzeitgedächtnis noch mal mit literarischem Wissen vollgeballert und erreichte mit einer bebenden Grundfrequenz im Körper die Schule, die mir langsam zu klein geworden war.

Wenn alles gut ging, wäre das mein allerletzter Schultag. Meine letzte Prüfung. In knapp zwei Stunden würde ich wissen, ob ich es gepackt hatte oder ob ich durchgerasselt war. Aber vorher mussten noch drei Schülerinnen und ein Schüler beweisen, ob sie unter erschwerten Stressbedingungen Brecht und Goethe auseinander halten konnten. Eine dieser Schülerinnen war ich. War nicht meine Idee, kannst du mir glauben.

Ich fühlte mich als hätte ich einen Luftballon verschluckt, der sich in meinem Leib immer weiter ausdehnte. Mutterseelenalleine saß ich in einem Klassenzimmer, als müsste ich nachsitzen und glotzte auf den Zettel vor mir. Hier war mein Thema. Schluss mit Spekulationen, Bangen, Hoffen. Dieser Wisch sollte als Gesprächsgrundlage dienen. Aber in Wahrheit war er mir überhaupt nicht dienlich, sondern zutiefst hinderlich. Ich hätte mit meinen Freunden, die schon alle Prüfungen hinter sich hatten, im Café sitzen können, hätte auf die Zeugnisvergabe warten können, hätte rauche, lachen, lästern können. Vor lauter Stress vergaß ich meine Pupillen richtig zu benutzen und entzifferte auf der Fotokopie nichts. „Los, los, lies!“, trieb ich mich selbst an. „Du hast nur zwanzig Minuten Zeit.“ Und konnte mich überzeugen. Endlich schwärzten sich die Buchstaben vor meinen Augen, traten aus der weißen Fläche hervor und gafften mich an, wie ich sie.

Ich las den Text durch, der von Brecht, nicht von Goethe war, was ja auch drüber stand und machte mir ein paar überflüssige Notizen. Dann holte mich mein Deutschlehrer ab, wie ein Kleinkind, das noch nicht alleine die Straße überqueren kann. Vor der Tür zum Prüfungsraum wünschte er mir Glück und ich war mich nicht sicher, ob es mehr mir oder ihm selbst galt. Mein Magen war mir gefolgt wie ein treuer, aber blöder Hund und gluckerte etwas davon, dass ihm Schnitzel jetzt lieber wäre als Brecht. Ich entschied mich gegen mein Bauchgefühl und für die Prüfung.

Als Brecht, mein Magen und ich uns mit dem Stück Papier, meinen Notizen darauf, in den Prüfungsraum schoben, fühlte ich mich plötzlich, wie in einem Schwerelosigkeitssimulator. Nur ohne Helm. Ich berührte den Boden kaum, schwebte mehr, als dass ich ging, die Bewegungen verliefen zeitlupenartig wie in dickem Öl und ich flutschte mit dämlich grinsender Visage, als hätte ich einen ganzen Joint alleine geraucht, auf den einzigen leeren Stuhl. Mein Deutschlehrer saß mir gegenüber. Seine Konturen hatten sich aufgeweicht. Eine eigenartig abstoßende Nähe herrschte zwischen uns und plötzlich konnte ich nur noch zusehen, wie sich mein Bewusstsein seltsam verschob mit dem deutlichen Vorhaben, diese Prüfung für eine Beweisführung der besonderen Art zu nutzen. Ohne meine Zustimmung.

Da ich die letzten neun Monate mit mathematischen Problemen schwanger gegangen war, um mit den kauzigen Zahlenverstehern aus meiner Klasse im Mathe-LK Schritt zu halten, wollte mein Gehirn jetzt auch kein artfremdes Baby mehr gebären. Zahlen, Buchstaben, Tangenten, Sinus, Gleichungen mit Unmengen unerwünschten Unbekannten und Funktionsableitungen drängen sich in den Prüfungsgeburtskanal.

Die Fragen meines Lehrers erreichten erst meine Ohren und von dort aus den Speicher, wo ich das gelernte Wissen abgelegt hatte. Ich plauderte munter drauflos, redete über das epische Theater und die besondere Bedeutung von Bertold Brecht für die damalige Theaterszene, referierte über Simultanbühnen, Identifikation, Held und Antiheld und Katharsis und zitierte den guten Mensch von Sezuan. Das tat mein Mund. Ich tat etwas ganz anderes. Ich konstruierte rechtwinkliger Dreiecke vom Scheitel meines Deutschlehrers ausgehend, zu den Ecken des Prüfungstisches, spannte Tangenten und Sekanten an und durch den Kreis, der uns beide umschloss und berechnete somit in welchem Verhältnis sein Schädel zur Länge des Tisches stand. Als ich damit soweit zufrieden war, fiel mir im Gewirr der geometrischen Figuren die eigenartige Haar- und Hautstruktur des Prüfers auf. Also berechnete ich die zweite Ableitung seiner Hautformel, um auf das Geheimnis der Gelbfärbung unterhalb seiner Augen zu kommen. Denn da, wo die erste Ableitung ihren Wendepunkt aufweist, da wo also die zweite Ableitung einen Höhepunkt erreichen wird, musste das Geheimnis verborgen sein. Jetzt musste man x nur noch mit dem passenden Faktor ersetzen. Fertig. Inzwischen hatte mein Mund alles ausgespuckt, was im Speicher zum Thema Brecht abgelegt war, als mein Ohr die abschließende Frage erreichte. „Was ist ein Epos?“ Die Dreiecke und Ableitungen fielen schlagartig in sich zusammen und hingen wie schlappe Spinnweben über den Köpfen der Herren.

 

Ich suchte in meinem Gehirn nach einer Antwort, könnte stattdessen die Ergebnisse meiner Berechnungen präsentieren, überlegte ich. Der Prüfer mit der ungesunden Gesichtsfarbe half mir weiter. „Kennen Sie denn einen Epos?“ fragte er betont freundlich. Von irgendwo empfing mein Gehirn den Namen Gilgamesch. Ein zufriedenes Lächeln überzog das Prüfergesicht und ich durfte gehen, schwamm durch die ölige Schwerelosigkeit zurück zur Tür. „Was ist denn jetzt ein Epos?“, frage ich, als die Schwerkraft mich wieder am Boden festhält wie ein gigantischer Magnet. „Eine Heldengeschichte!“, antwortete der Knittergesichtige während er seine Unterlagen zusammen packte. Natürlich! Was denn sonst! Das hätte ich doch mit Leichtigkeit berechnen können!

 

Damit ist der Beweis erbracht, dass sich das epische Theater hervorragend mit Tangens und Cosinus erklären lässt und Gilgameschs gelbe Haut zu der Haarstruktur des Prüfers verhält, wie der Kopfumfang meines Deutschlehrers zu der Breite eines Standartschultischs. Das ist angewandte Wissenschaft. Das hätten die mal prüfen sollen!