Kennen lernen

„Ruf den Gundel an!“, rate ich Sandra, als ihr Telefon faucht und knackt. „Der bringt das Ding in Ordnung. Außerdem ist er der schönste Mann im Haus.“ Wir kichern ein bisschen. Dann ruft sie ihn an. Der Gundel kommt und ich staune, wie Recht ich hatte. Der Gundel ist wirklich der schönste Mann im Haus. Er ist groß, der Gundel. Nicht wie ein Türrahmen, eher wie eine Leuchturm. Er taucht unter, krabbelt auf dem Boden entlang, zieht ein Kabel unter unseren Schreibtischen hindurch. Wir grinsen oberhalb der Schreibtischlinie. Er taucht wieder auf, drückt die Tasten auf dem Apparat. Fertig. Kein Knacken mehr, kein Fauchen. Die Leitung ist frei. Amüsiert blickt er mit seinen glänzenden Augen aus den Tiefen seines Gesichts Sandra an und mich und denkt sich seinen Teil.

Seine Augen erinnern mich an die Augen in unserer Familie. Die gleichen kugeligen Augäpfel. Die Farbe ist anders. Seine sind grau, wie helle, nasse Kieselsteinen. Das eine Auge zwinkert mir zu, wenn wir im Flur aneinander vorbei gehen. Die Luft macht seinem großen Körper Platz und streift mich. Ich rieche das Waschmittel, mit dem sich sein Hemd gewaschen hat. Zitrone. Oder Lilie? Hat er es gekauft? Seine Freundin? Seine Mutter? Und dann der warme Duft seiner Haut. Seine Turnschuhe quietschen auf den Bodenplatten. Beschwingter fühle ich mich, als hätte einer Licht angenknipst. In mir drin. Je mehr ich meinen Gedanken erlaube, um den Gundel zu kreisen, desto durchlässiger fühle ich mich. Ich spüre, wenn er im Haus ist und sage Sandra, wie blöd, dass ich ganz oben mein Büro habe und der Gundel im Erdgeschoß. Sandra marschiert zu Gundels Chefs, hämmert an seine Tür, tritt ein, setzt sich und sagt, es ist wichtig, dass Vera ein Büro im Erdgeschoß bekommt. Geht nicht, geht nicht, sagt der Chef. Das ist sehr wichtig, sagt Sandra. Zwei Tage später stehen Gundels Kollegen in der Tür. Beide mit rosa Hemd, wie Brüder. Der eine hat einen dicken Schnurbart unter der Nase, der andere so einem schmalen, der von einem Mundwinkel zum anderen verläuft. Die Männer murren und wuchten Schreibtisch, Telefon, Fax und Computer fünf Etagen nach unten.

In meinem neuen Büro wartet ein Sofa auf mich. Nur für den Fall, dass jemand mit zwei Bechern Kaffee vorbei kommt, sagt Sandra. Ein ist blau. Unverfänglich. Ich ziehe ein und die Schuhe aus. Ab sofort lasse ich meine Bürotür offen. So sehe ich, wer vorbei kommt. So sehe ich, wenn der Gundel vorbei kommt. Und er kommt vorbei, in jeder Hand einen Becher Kaffee und fragt, wie geht´s. Er setzt sich auf das blaue Sofa. Es passt perfekt zu seinen kieselsteingrauen Augen. Ich pendel auf meinem Bürostuhl hin und her.

Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass es noch lange dauern wird, bis er mich küsst. Ich weiß noch nicht, dass er eine kleine kahle Stelle am Hinterkopf hat. Ich weiß noch nicht, dass er ein Wesen ist, das aus dem Wasser kommt, nicht aus der Tiefe der Erde, so wie ich. Ich weiß noch nicht, dass er der schönste Mann in meinem Zuhause wird.

 

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