Stottern

Mein Sohn ist davon überzeugt, dass er bereits jetzt, mit neun Jahren, besser einparken kann als ich. Schließlich übt er es auf Papas Handy per App. Und schalten und steuern kann er auch schon. Ich hatte in seinem Alter keinen blassen Schimmer davon, wie man ein Fahrzeug fortbewegt, mal abgesehen von Puppenwagen, Rollbrettern und Fahrrädern. Autofahren bedeutet für mich: ich saß zwischen meinen Geschwistern eingezwängt auf der Rückbank und wurde, ja nach Kurvenrichtung, mal gegen den einen, mal gegen den anderen geworfen, angemault und zurückgeschubst. Ich beneidete Martin und Eva darum, dass sie ihre Nasen an den kalten Scheiben plattdrücken konnten, während ich nur zwischen den Schultern meiner Eltern hindurch durch die Frontscheibe starren konnte. Wann würden die Scheibenwischer endlich diese eine Stelle erreichen, die sie immer aussparten, fragte ich mich bei jedem Regen.

Mein Vater thronte am Steuer. Meine Mutter saß daneben und klammerte sich an seinem Arm fest. Die Platzverhältnisse in Autoinnenräumen damals darf man nicht mit heutigen Familienkutschen vergleichen. Wir fuhren Ente. Zu fünft. Auch wenn es in Urlaub ging. Bei starken Steigungen mussten Mama und wir nach oben laufen, bergab ging es im Leerlauf, ohne Motor, das Faltdach geöffnet, wir Kinder standen auf der Rückbank und warfen die Arme in die Luft. So ging es viele Jahre. Dann, eines Tages stand ein zweites Auto vor der Tür. Mit Geschenkband und Schleife auf dem Dach, an Mamas Geburtstag.

Von AlfvanBeem - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16584422
Von AlfvanBeem - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16584422

Das Auto war kastig, grau, stand auf vier kleinen Rädern und hieß Prinz, obwohl es nicht danach aussah. Mein Vater hatte keine Ahnung, wer es vor das Haus gestellt haben konnte und zog den Schlüssel aus der Hosentasche. Während meine Mutter aufgeregt versuchte die Autotür aufzuschließen, inspizierte ich den grauen Kasten und suchte einen Hinweis, der den Namen Prinz gerechtfertigt hätte. Keine Krone, kein Goldbesatz, kein Hermelin. An der Kofferraumklappe klebten drei Buchstaben: NSU. Ich wusste, Abkürzungen die mit N und S begannen, verhießen nichts Gutes und hatten immer mit dem Krieg und den Soldaten zu tun. Außerdem hatte das Auto genau die Farbe, wie alles aus der Zeit des Krieges, als die Welt noch schwarz-weiß war. Für mich war klar: das war das Auto eines gefallenen Soldaten. Wahrscheinlich erschossen, überlegte ich und hoffte auf ein Einschussloch irgendwo im Seitenblech. Bei dem toten Soldaten musste es sich um den Sohn unserer Vermieterin Frau Delling gehandelt haben. Ich kannte niemanden sonst, der uns ein Auto hätte schenken können. Ihr Haus durften wir schließlich auch benutzen, weil sie alleinstehend war.

 

Als die Tür schließlich offen war, mussten alle Probesitzen. Am Spiegel baumelten zwei lederne Kinderschuhe mit Kautschuksohle, die sich auflöste wie schmelzender Zucker, ansonsten war es in Prinz ähnlich eng wie in der Ente. Die Schuhe wanderten auf die Heckablage, weil meine Mutter das Gebaumel beim Fahren irritierte. Wozu der Soldat sie benutzt hatte, wusste ich nicht und akzeptierte das irgendwann genauso, wie den Namen Prinz.

 

Zu jener Zeit lernte ich, dass es Autos gibt, die machen das, was der Fahrer von ihnen verlangt, so wie Papas Ente, und es gibt Autos, die entscheiden selbst. Prinz gehörte zu der zweiten Sorte.

 

„Wie sind wir denn jetzt hier hergekommen?“, höre ich meine Mutter noch fluchen, und „Das Ding macht aber auch was es will!“ Prinz hatte seinen eigenen Zylinderkopf. An der Kreuzung, da wo unserer Anlügerstraße in die Hauptverkehrsstraße einbog, bockte Prinz bei jeder Fahrt, stotterte und ging einfach aus. Jedes Mal das gleiche. Genauso an der nächsten Kreuzung und an der übernächsten. Prinz mochte keine Kreuzungen. Meine Mutter hatte schweißnasse Hände, wenn sie ein Vorfahrt-Achten-Schild von Ferne sah. Irgendwann war Prinz verschwunden und meine Mutter saß wieder auf dem Beifahrersitz der Ente oder fuhr mit dem Bus.

 

Erst als ich meinen Führerschein machte, verstand ich, was damals an der Kreuzung wirklich passiert war zwischen meiner Mutter und Prinz.

 

Bei meiner ersten Fahrstunde erklärte mir Herr Wöst, wozu all die Knöpfe an der Armatur, der Hebel zwischen den beiden Vordersitzen und die drei Pedale da waren. Ich hatte meine Eltern nie danach gefragt und es dauerte eine Weile, bis ich einsah, warum man zum Schalten die Kupplung treten musste. Nach dieser kurzen Einweisung, sollte ich losfahren. Ich war total überfordert. Als Waldorfschülerin war ich es gewohnt, neue Lerninhalte langsam anzugehen, erst nur darüber zu sprechen, möglicherweise ein Lied zu singen, ein Wasserfarbenbild anzufertigen oder einer symbolhaften Geschichte zu lauschen, bevor man das Gelernte selbst in die Tat umsetzte. Herr Wöst schien es anderes zu handhaben. Er jagte mich in der ersten Stunde durch die Rushhour. In den nächsten Wochen maß er meine Fahrkünste daran, ob er sich im Stadtverkehr eine Tasse Kaffee aus seiner Thermoskanne einschenken konnte, ohne zu schlabbern und ob ich mich während des Fahrens gleichzeitig unterhalten und den Sender des Radios wechseln konnte.

 

Als ich das alles beherrschte, außer der Sache mit dem Radio, kam die Prüfung. Mein Kupplungsbein zuckte unkontrolliert, als ich am Hang an einer roten Ampel stehen bleiben musste. Ich würgte den Wagen ab und verpasste die Grünphase.

„Macht nichts!“, brummelte der Prüfer auf der Rückbank. Das Auto hinter mir hupte. Die Ampel schaltete das zweite Mal über gelb nach grün. Ich würgte den Wagen wieder ab. Dezentes Hüsteln auf der Rückbank. Zwei Autos hupten. Beim dritten Grün hoppelte ich mit dem Auto auf die Kreuzung, bremste im letzten Moment, bevor ich in den Gegenverkehr geriet. Das war es also gewesen, was damals zwischen meiner Mutter und Prinz wirklich vorgefallen war: sie hatte ihn abgewürgt! An der immer gleichen Stelle.

„Fahren Sie rechts ran. Herzlichen Glückwunsch. Sie haben bestanden!“, sagte der Mann von hinten und überreichte mir ein rosa Heftchen.

 

Das Anfahren am Hang stellt heute kein Problem mehr für mich da. Aber Radiohören und Reden gleichzeitig? Das ist nicht meins, sehr zum Bedauern meiner Kinder. Und wenn ich trotzdem mal das Auto abwürdge, findet mein Sohn nichts dabei. „Mama, da hättest du mal die Kupplung nicht so schnell kommen lassen dürfen!“, sagt er dann nebenbei und zählt weiter alle Fahrzeuge auf, die er haben muss, wenn er groß ist.