Abendbrot

„Zum Abendessen bist du zu Hause“, erinnert mich meine Mutter, als ich eilig in die Schuhe schlüpfe, raus, nur raus will, spielen mit anderen Kindern, die endlich mit ihren Hausaufgaben fertig sind und schon auf der Straße lachen; zum Abendessen zu Hause sein, die einzige Regel, die wir beachten sollen, keine Fahrradhelme, keine Schuhe, die nicht naß werden dürfen, keine ermahnenden Worte, haltet euch von ungezogenen Kindern, streunenden Hunden oder gefährlichen Stellen am Ufer fern, nur: zum Abendessen zu Hause sein. In wessen zu Hause ist damit nicht gesagt.

 

Ich esse gerne bei anderen Abendbrot, wo es anders aussieht, anders riecht und anders schmeckt, saftiges Brot von einem Bäcker, der anders ist, als der, wo wir unser Brot kaufen, Wurst mit Pfefferrand, der Käse mit Löchern statt mit Blauschimmel, roter Tee aus Glaskaraffen, nicht der bittere schwarze aus der Messingkanne, andere Gespräche, andere Leute und andere Regeln.

 


Wenn du einmal weißt, wie es bei einer Familie beim Abendbrot zugeht, weißt du viel mehr, als deine Freunde dir über ihre Familie jemals verraten hätten. Aber man muss sich blitzschnell anpassen. Wo darf ich mich hinsetzen? Kann ich hier mit vollem Mund reden? Kann ich den Fragen des  Vaters standhalten, den ich nie zuvor gesehen habe? Muss ich damit rechnen, dass es hier zur Vorspeise ein Tischgebet gibt? Schmeckt mir das, was da auf meinem Teller vor mir steht? Kann man das überhaupt essen? Aber wenn du eines dieser Abendessen überstanden hast und bereit bist, ein zweites Mal mit diesen Leuten am Tisch zu sitzen, dann hat eure Freundschaft die Chance, lange, lange zu halten.

 

Die Regeln im Hause meiner besten Freundin kenne ich inwendig und kenne ich auswendig. Nur einen Hauch Butter auf sein Brot schmieren und nach einer zweiten Scheibe nicht mehr die Hand nach einer dritte ausstrecken, ist eine Sache, die ich weiß. Dafür gibt es nach dem Brot Joghurt für alle, selbst gemacht, aber der Joghurt heißt hier nicht „der Joghurt“, wie bei uns, sondern „die Joghurt“. Ich hab nur einmal angemerkt, dass bei uns der Joghurt männlichen Geschlechts ist. Daraufhin erhielt ich eine Privatstunde in deutscher Grammatik und wusste fortan, dass es eine blöde Idee ist, die Richtigkeit des Artikels von Joghurt anzuzweifeln.

 

„Die Joghurt“ wird in einer Tasse mit wenig roter Marmelade angerührt und stellt den Dessert und damit das Ende der Mahlzeit dar. Jeder Marmeladesorte ist ein eigener Löffel zugeordnet, der bereits im Glas steckt und der weder in „die Joghurt“ getaucht, noch genüsslich abgeleckt werden darf, sonst gerät Joghurt in die Marmelade und Spucke an den Löffel. Bei uns zu Hause passiert das ständig, aber weil die Marmelade mit all ihren Yoghurtresten und Bakterienkulturen bald leer ist, denkt darüber niemand nach. Als ich das Prinzip der Löffelei noch nicht begriffen hatte, als ich nicht verstand, welcher Löffel meiner und welcher Löffel Erdbeermarmelades, welcher Brombeermarmelades war, widerfuhr mir, was einem Regelbrecher im Haues meiner Freundin widerfährt. Mitleidiges Lachen übergießt dich, was aber leichterdings auch ohne Joghurt und Löffel passieren kann, nämlich wenn man keine Ahnung von Asterix hat.

 

Weil Asterix ein hohes Kulturgut ist, muss es jeder gelesen haben, darüber ist man sich hier einig, und zwar nicht nur in Deutsch. Es liegen Bände in Italienisch, Englisch, Französisch und Latein vor. Asterix-Zitate schießen durch die Luft, wie die Schwalben um die Häuserecke, folglich muss ja irgendwas dran sein, an den Stories. Ich hab mir selbst mal ein solches Heft vorgeknöpft und festgestellt, es ist weder komisch, wenn ein dicker Mann mit gestreifter Hose Soldaten mit Helmen durch den Wald boxt, bis diese von den Ästen baumeln, noch hilft es mir, geschichtliche Zusammenhänge besser zu verstehen. Aber wenn beim Abendbrot der neuste Asterix besprochen wird, die Sprüche von einer Sprache in eine andere hinübersetzt und herdekliniert werden, wenn die Sprechblasen nur so über dem Esstisch dampfen, dass man sich selbst nicht mehr denken hört, dann wird sogar „die Joghurt“ in der Tasse verrückt. Da man von mir nicht erwartet, dass ich mich an Bildungsgesprächen dieser Art beteilige, sind das die Abende, an denen ich ungeniert eine dritte und vierte Scheibe Brot verdrücke, die Löffel von einem Marmeladenglas in das andere wandern lasse und nach Herzenslust ablecke. Ich kann zwar keine lateinischen Witze erzählen, dafür bin ich satt. Und wenn ich doch nicht satt bin, dann gehe ich zum Abendbrot eben einfach nach Hause.