Geheimverstecke

„Ein, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein!“ Wie elend fühlte ich mich, wenn dieser Reim zu hören war! Ich habe nie gerne Verstecken gespielt. Aber bei meinen Freundinnen war das ganz hoch im Kurs. Leider. Ich hasste es, in einem Kellervorsprung oder hinter einem Baum zu hocken. Ich bangte und hoffte zugleich, gefunden zu werden. Und ich musste immer aufs Klo. Dringend. Im Grunde  habe ich nur mitgespielt, weil ich darauf zählte, danach würden wir Fangen spielen oder Brennball. Aber meistens war es dann schon halb sieben und alle mussten nach Hause. Obgleich ich dieses Spiel nicht möchte, bei dem man möglichst nicht entdeckt werden sollte, hatten Verstecke sonstiger Art eine große Anziehung auf mich. Ich benötigte sie vor allem, um Süßigkeiten, die ich unerlaubterweise besaß, vor anderen zu verbergen. Unerlaubt, weil Süßigkeiten in unserer Familie ähnlich verpönt waren, wie bei anderen das Nase bohren, unerlaubt, weil ich sie mit Geld bezahlt hatte, das ich meinem Vater zuvor entwendet hatte. Er bewahrte all die Münzen, die er abends in seiner Hosentasche fand in einer runden, silbernen Dose auf seinem Schreibtisch auf, deren Deckel man mittels eines Rädchens aufdrehen konnte, wie die Kuppel einer Sternenwarte. Ohne diese Dose wäre ich mit meinem Taschengeld niemals zurecht gekommen. Schon gar nicht bei meinem Süßigkeitenkonsum. Vielleicht wäre mir aber auch der eine oder andere schmerzhafte Zahnarztbesuch erspart geblieben. Sei´s drum. Der Kioskmann vorne an der Kreuzung hat vermutlich das neue Dach seines Büdchens von dem bezahlt, was ich dort für saure Zungen gelassen habe. Natürlich schämte ich mich dafür, sowohl für den heimlichen Konsum, als auch für mein diebisches Verhalten. Darum mussten die verbotenen Zuckerwaren sofort verspeist oder so sicher verschanzt werden, damit ich nicht aufflog. Oben auf dem Schrank. Meine Mutter machte sich nicht die Mühe, einen Stuhl auf die Marmorplatte des monströsen Waschtisches zu stellen, um auf den noch monströseren Kleiderschrank zu klettern, nur weil ich dort was versteckt haben könnte. Und mein Vater hätte nie einen Gedanken daran verschwendet, kindliche Geheinisse lüften zu wollen. Er war mit sich selbst beschäftigt. Und meine beiden älteren Geschwister haben sich meinem Zimmer fern gehalten. Zu groß war die Gefahr, ich hätte sie zum gemeinsamen Spiel auffordern können. Ich hielt mich für die einzige, die dem Laster des Süßigkeitenkonsums verfallen war, eine willensschwache und daher verabscheuungswürdige Außerirdische in einer Familie voll gesundheitsbewusster Heiliger. Noch mehr Grund, um mich noch mehr zu schämen. Bis ich eines Tages unter dem Bett meiner älteren Schwester einen Karton fand. Zugegeben, ich hatte in ihrem Zimmer rumgeschnüffelt, obwohl ich dort natürlich nichts zu suchen hatte, schließlich achteten wir die Privatsphäre des anderen. Ich hab mich nicht dran gehalten. Jedenfalls diese einmal nicht. Und da fand ich den Karton, öffnete ihn und sah das Unbegreifliche. Der Karton beinhaltete Schokolade, Kaubonbons, Gummibärchen und allerhand leeres Papier, das auf wahre Süßigkeitenorgien schließen ließ. Der Schock saß tief. Ausgerechnet sie, die mir so besonders tugendhaft erschien. Sie machte das Gleiche wie ich! Seitdem habe ich mich noch mehr geschämt, dafür dass ich heimlich Süßigkeiten mampfte, dafür, dass ich sie versteckte, dafür dass ich sie von Papas Hosentaschenmünzen bezahlte, dafür, dass ich im Zimmer meiner Schwester rumgestöbert hatte und dafür, dass meine Schwester mindestens so tief in der Misere steckte wie ich. Heute esse ich überhaupt nicht mehr, das raffinierten Zucker enthält. Vielleicht meine Art dieses Trauma zu überwinden. Das Bedürfnis, Dinge vor anderen zu verbergen, ist geblieben. Jetzt sind es spirituelle Bücher, Edelsteine, Amulette, Pendel oder ätherische Öle, die nicht in jedermanns Hände geraten sollen, weil sie ähnlich verpönt sind, wie damals die ungesunden Zahnkiller. Aber die meisten meiner Geheimnisse befinden sich heute im virtuellen Raum, irgendwo in Clouds gespeichert, die noch nie einer wahrhaftig gesehen hat. Dort driften sie dahin bis in alle Ewigkeit.  Als Kind  hatte natürlich auch Lust darauf, mich selbst an einen geheimen Ort zu begeben und knüpfte daran große Erwartungen. Hatte ich eine Stelle gefunden, die mir als Versteck geeignet erschien, fühlte ich mich jedoch in keiner Weise besser, geheimnisvoller oder wichtiger als zuvor. Ich war allein in meinem Versteck, niemand suchte mich, nichts passierte und ich musste aufs Klo. Dringend. Ein Versteck mit einer Freundin zu teilen, das wäre es gewesen! Ich muss so zwölf gewesen sein, vielleicht dreizehn, als meine beste Freundin und ich tatsächlich eines Tages ein perfektes Versteck erschufen. Es war an dem Tag, als wir beschlossen hatten, das kindliche Spiel ein- für allemal einzustellen. Es war ein richtig geheimes Versteck, so wie es die Heldinnen in den bunten Groschenheften hatten, die wir nicht lesen sollten, ein Versteck, in dem echte Heimlichkeiten ausgetauscht wurden, Geheimnisse über Jungs natürlich. Wir trafen uns unter der Kastanie in der linken hinteren Ecke des Ankerplatzes, direkt an der Mauer zum Neckar. Hier hockten wir den ganzen Sommer, ließen die Beine von der Mauer baumeln und betrachten von oben die Spaziergänger am Fluß, quatschen, träumen und lachen. „Was würdest du tun, wen jetzt irgendein Junge käme und dich fragte, „willst du mit mir gehen?““ Das war die Hauptfrage, die wir uns wieder und wieder unter dem rauschenden Blätterdach stellten. Und wir wollten beide Ja sagen, auf jeden Fall und sofort, nur um der Erfahrung Willen. Aber es kam niemals einer vorbei, weder einer von den begehrten Exemplaren, noch einer von denen, die von uns nur für den Notfall in Betracht gezogen worden waren. Wie auch? Wir hockten ja in unserem Geheimversteck! Am Ende des Sommers war auch das Versteck unter der Kastanie langweilig geworden und der Zauber ließ sich im nächsten Sommer nicht wieder herstellen, auch wenn wir es noch ein paar Mal probierten. Es war nicht das Gleiche. Die ersten Jungs kamen tatsächlich, nicht dorthin, aber doch in unsere Leben, und wir hatten anderes zu tun, als unter einem Baum zu hocken. Meistens jedenfalls. Noch heute verspüre ich große Sehnsucht, Sehnsucht nach diesem besonderen Ort, der nur für mich gedacht ist. Für meine Geheimnisse und meine Gedanken. Aber wenn ich ihn finde, den perfekten Platz, weiß ich nicht, was ich dort machen soll, so ganz alleine und dann dauert es auch gar nicht lange, bis ich dringend aufs Klo muss.

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    erbsenblume (Donnerstag, 28 Januar 2016 17:09)

    wunderbar anrührend... die gänshaut kriecht über die schultern und arme und ich sehe dich da sitzten erschrocken vor den eigenem auferlegten und so frei auf der warmen mauer am neckar. danke

  • #2

    BBird (Montag, 01 Februar 2016 11:23)

    Diese Verstecke, die man mit den besten Freundinnen fand, waren wirklich großartig. Schön, mal wieder daran erinnert zu werden.

  • #3

    Florenska (Montag, 01 Februar 2016 15:58)

    Tolle Bilder in meinem Kopf...eine klasse filmszene.
    ich erinnere mich an meine beste Freundin mit der ich 50 kaugummis kaute und zu einer langen schnur um einen Baum wickelte.wirvwaren wohl etwas älter, gelangweilt und grossstadtkinder.
    freu mich schon aufs nächste gute kopfkino:)