Es war kein Rotwein. Es war Kir Royal, der mir meinen ersten Schwips verpasste. Und es war 1984, die Zeit von Nena, Karottenhosen und Stufenschnitt. Meine Freundin Jotz wurde konfirmiert und ich war eingeladen, obwohl ich katholisch war. Aber das spielte 1984 keine Rolle.
Heidelberg Handschuhsheim. Sonntagmorgen. Menschen, mit schwarzen, glänzenden Schuhen, die Damen mit Blusen in dezenten Farben und monströsen Schulterpolstern, die Herren in weißen Hemden und Krawatten, standen in lockeren Grüppchen vor der Kirche zusammen, als warteten sie auf einen Sonderzug; Menschen, die ich nur mit Jeans, Blümchenkleid und Pluderhose kannte. Sie bewegten sich sparsam bis gar nicht und auf ihren Gesichtern lagen verschiedene Varianten verlegenen Lächelns, Münder reichten höfliche Laute weiter oder bliesen Zigarettenrauch aus. Ich fühlte mich wie ein Außerirdischer, notgelandet in einer Herde fremder Wesen, deren Gewohnheiten ihm nicht vertraut sind. Wenn ich das hier überstehen wollte, musste ich mich anpassen.
Ich schummelte mich zwischen die geputzten Leute, entschlossen, im Ernstfall deren Verhalten zu übernehmen und schaute mich suchend nach etwas um, das ich aus meiner Welt kannte. Endlich entdeckte ich Jotz, umzingelt von Gästen. Sie sah fremd aus, hatte nichts mit dem Mädchen zu tun, mit dem ich sonst kichernd im Gebüsch hockte, um Passanten auszuspionieren. Sie steckte bis zu Hals und Handgelenken in einem schwarzen Samtkleid, das in sich kariert war, ein Rechteck, als hätte man den Samt zur einen Seite gestrichen, das nächste Rechteck, als hätte man ihn zur anderen gestrichen, die Fledermausärmel so ausladend, dass sie damit über das Neckartal hätte segeln können. Ihre blonden Haare waren genauso geschnitten, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Der Pony teilte sich mittig auf der Stirn und fiel dann beidseitig in Kaskaden bis zur Kinnlänge ab. Die restlichen Haare, die nicht Pony heißen, setzten diese Form bis zum Hinterkopf fort und landeten mit einem Auswärtsschwung auf dem Kragen des Kleides. Beneidenswert.
Der Standartschnitt, den meine Mutter mir verpasste, war von diesem Haarkunstwerk weit entfernt. Ich korrigierte ihn neuerdings mit ein paar beherzten Scherenschnitten, bis mein dichtes, asphaltblondes Haar in der Mitte nach oben abstand, wie eine Bürste, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte. Wenn schon nicht schön, so wenigstens wild. In meinem Nacken hing eines jener kleinen geflochtenen Zöpfchen, die Peter Maffay erfunden hatte und heute vom Aussterben bedroht sind. Ich trug einen Rock, den meine Mutter selbst genäht hatte. Für sich. Nicht für mich. Den Bund hatte ich mit einem Gürtel um meinen Bauch zusammen gerafft, damit mir die Stoffbahn nicht über die damals noch knabenhaften Hüften rutschte. Dazu hatte ich eine weiße Bluse an, auch von meiner Mutter. Sie war gekauft. Second Hand. Und diagonal geknöpft. In den Achtzigern war man der Meinung, es falle nicht weiter auf, wenn man Klamotten trug, die zwei bis drei Nummern zu groß waren. Leider hatte der Rock keine Taschen, in die meine verlegenen Hände hätte schlüpfen können, weil Taschen zu kompliziert zu nähen waren. Natürlich hätte ich lieber meine eigenen Sachen angehabt, aber auf dem Fußboden vor meinem Kleiderschrank befanden sich nur Hosen, mit Schere und Edding bearbeitet. Nichts für eine Konfirmation. Jotz und ich hätten unterschiedlicher nicht sein können. Das brachte dieser Anlass deutlich zutage. Beide waren wir Kinder unserer Zeit, sie, eine Vertreterin des langsam aufkommenden Markenbewusstseins, ich eine Zeitgenossin der „Null-Bock-Generation“. Sie mit farbiger Wimperntusche, ich mit Sicherheitsnadel durchs Ohr. Normalerweise.
Der verkleidete Menschenpulk bewegte sich in die Kirche, nahm auf harten Kirchenbänken Platz, verfolgte, so gut es ging, die Zeremonie um den Altar, erhob sich mit Einsetzen der Kirchenorgel und schob sich wieder hinaus. Ich war Teil einer Masse geworden, etwas das ich normalerweise aus Prinzip vermied, einer Masse, die dazu diente, die Kirchenbänke zu füllen, damit die Konfirmanten sich nicht so alleine fühlten, bei ihrem Bekenntnis zu einer Institution, über die sie nicht sehr viel mehr wussten, als damals, als sie ungefragt getauft wurden. Das wars. Kein Theaterstück mit dramatischer Musik und Jotz in der Hauptrolle, für die sie sich stundenlang hinter den Kulissen vorbereiten musste, kein Sprung über einen Abgrund mit glühender Kohle, keine Funken, kein Krach, kein Applaus. Nicht mal Weihrauch. Enttäuschend. Vor der Kirche wurden Hände geschüttelt, obwohl niemand Geburtstag hatte, Krawatten wurden gelockert und Wirbelsäulen aufgerichtet, dann endlich verwandelte sich Jotz wieder zurück in die vertraute Freundin und gratulierte mir zu meinem gelungenen Outfit.
Der Menschenpulk war in seine Einzelteile zerfallen. Eine Person nach der anderen betrat den Kronleuchtersaal der Strahlenburg, schaute sich um wie bei einer Schloßbesichtigung, suchte seinen Sitzplatz an der gedeckten Festtafel und verschmolz mit den anderen wieder zu jener Masse, aus der sie sich herausgelöst hatte. Plötzlich fanden Jotz und ich uns am schmalen Ende einer endlosen Tafel mit weißem Tischtuch wieder, thronten wie König und Königin vor einer Armee langstieliger, bauchiger und tulpenförmiger Gläser, massenweise Besteck und Werkzeugen, die ich nicht kannte und blickten in die abwartenden Gesichter unseres Hofstaats bestehend aus Jotz gesamter Verwandtschaft und ein paar Freunden.
Kellnerinnen mit kleinen weißen Schürzchen schwebten symmetrisch um die Tafel herum und befüllten Gläser mit rotem Sirup, den sie mit Weißwein aufgossen. Dann arbeiteten sie sich, Gast für Gast, die Tafel vor. Sirup, Wein, Sirup, Wein, Sirup, Wein, Sirup, Wein, bis jeder Gast ein volles Glas vor sich hatte, es erhob und den Kopf Richtung Königspaar drehte. Ich erinnere mich an den verunsicherten Blick zwischen Jotz und ihren Eltern, als wollte sie sagen: „Was muss ich denn jetzt machen?“ Das war das eine Problem. Das andere war: da befand sich zweifelsohne Alkohol in unseren Gläsern. Jotz Eltern nickten ermutigend und stießen erst mit ihrer Tochter, dann mit mir und den andern Gästen an. Nachdem endlich jeder mit jedem angestoßen hatte, stellten wir erleichtert fest: der gekühlte Weißwein mit dem roten Sirup schmeckte gar nicht übel und wärmte von innen. Aber gegen den Durst war das nichts. Also bemühten wir uns, das Glas möglichst zügig auszutrinken, um Platz für Limo zu machen. Aber noch bevor wir den Grund unserer Gläser erreicht hatten, schwebten die Kellnerinnen erneut heran und schenkten nach. Sirup und Wein. Später nur Wein. Nach dem dritten Versuch, die Gläser leer zu kriegen, verstanden wir das Prinzip: wer leer trank, bekam mehr. Alsbald saßen wir vor einer Batterie halbvoller Gläser: Kir Royal, Weißwein, Rotwein und kamen nicht mehr nach. Für jeden Gang das passende Getränk. Unseren Durst auf Limo hatten wir längst vergessen. Immer wieder schwankten alte Herren und uralte Damen, die ich nicht kannte, um den Tisch herum, stießen ihre Gläser gegen unserer und gratulierten uns beiden, als hätten wir uns gerade geheiratet. Allmählich verschwommen die Gesichter am Tisch und die Kronleuchter schwankten bedrohlich. Ich schaute Jotz an und wir waren uns einig: die Geräusche waren sürreal, die Größenverhältnisse hatten sich verschoben, die Gesichter der Gäste zu Fratzen verwandelt. Es war Zeit zur Toilette zu gehen, um etwas unter vier Augen zu klären. Vor den blitzeblanken Spiegeln brachen wir in prustenden Gelächter aus. Wir hatten einen ganz gehörigen Schwipps. All beide. Zum allerersten Mal. Ganz offiziell und mit Befehl von oben.