Hereingeplatzt

Es ist Juli, halb neun Uhr morgens und die Temperaturen knapp unter dreißig Grad. Im Physiksaal ist es mucksmäuschenstill. In der vorderen Reihe ist schon jemand wach und lauscht Herr Wielands Ausführungen davon, was die Welt im Inneren zusammenhält. Der Typ rechts daneben blättert unter dem Tisch in einer Modellbauzeitschrift. Segelschiffe. Dreimaster. Ein Mädchen in der Fensterreihe malt bunte Kringel in ihren Schülerkalender. Herr Wieland hat einen Versuch aufgebaut. Eine elektrische Töpferscheibe surrt leise und stottert bei jeder dritten Umdrehung, als kündigte sie ihr baldiges Ende an. Ein Tonklumpen trudelt um sich selbst und verformt sich zu einem namenlosen Gebilde, zieht sich in die Breite, eiert und fällt zu Boden. Hinter Wielands verwildertem Bart steigert sich die Begeisterung über die Phänomene der Naturgesetze. Er lacht über das Zusammenspiel von Schwer- und Fliehkraft und kratzt referierend mit einem verbogenen Esslöffel den Ton vom Boden. Vorne wird milde mitgelacht. In den hinteren Bankreihen wird geschlafen. Wielands spinnenlangen Finger tasten sich durch das Gewirr seiner struppigen Gesichtsbehaarung und bekratzen die Haut an seinem Kinn. Kopf und Hände ragen aus einem weinroten Pulli. Echte Schafswolle. Schuppen rieseln auf das Pult vor ihm. Wieland kritzelt Zahlen und Buchstaben mit kreischender Kreide an die Tafel, die in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Tonklumpen stehen sollen. Ein Gemisch aus Deo, Zigaretten und den Ausdünstungen Heranwachsender diffundiert durch die müden Körper der Schüler.

 

Da klopft es an der Tür. Das kann kein verspäteter Mitschüler sein. Der würde nicht klopfen, sondern hereinschlurfen, wie jeder verschlafene Teenager. Köpfe erheben sich träge von den Tischplatten, um zu sehen, wer den Physikschlaf unterbricht. Die Tür bewegt sich nicht. Die Hand aus dem Pulli setzt ihr Gekritzel fort. Es klopft erneut. „Herein!“, ruft Wieland und starrt gespannt Richtung Tür. Die Klinke zuckelt nach unten. Die Tür öffnet sich einen Spalt breit, zögerlich. Ein Korb schiebt sich herein. Dahinter eine kleine Frau. Sie sucht mit den Augen die ansteigenden Bankreihen des Physiksaals ab. Wir lachen. Jeder kennt die kleine Frau. Jeder außer Wieland. Fünfundzwanzig Köpfe drehen sich zur hinteren Reihe. Olli schießt das Blut ins Gesicht, bis es rot ist wie die Wolle von Wielands Pulli.

 

„Olli hat sein Pausenbrot vergessen“, flötete die Frau und holt eine Plastikdose aus ihrem Rotkäppchenkorb. Olli schnaubt, dreht die Augen zur Decke, erhebt sich schwerfällig, wie ein übergewichtiger Frührentner aus der letzten Reihe. Seine Springerstiefel stapfen mit ihm in Siebenmeilenschritten durch den Mittelgang. „Danke Mutti!“, brummt Olli und nimmt die Dose.

 

Seine kleine Mutter reckt ihm ihre Wange hin. Und dann beugt Olli sich hinunter und küsst seine Mutter vor den Augen aller, die ihn bis zu dem Augenblick für den coolsten, härtesten und unbestechlichsten Typen der Klassen gehalten hatten. Als Ollis Springerstiefel wieder unter der hintern Bank eingeparkt haben, teilt Wieland die Arbeitsblätter aus und wünscht uns trotz der hohen Temperaturen viel Glück bei der letzten Klassenarbeit, die uns noch von den Zeugnissen trennt.