Ist es besser, bei starkem Regen heftig in die Pedale zu treten, um dem Wetter zu entkommen? Oder empfiehlt es sich, langsam zu radeln, um eine kürzer Regenstrecke zurück zu legen? Bei dieser Frage geht es nicht nur um Effektivität und Nutzen, sondern auch um Charakter und Temperament. Jotz und ich beweisen in dieser Situation sehr unterschiedliche Wesenszüge.
Während ich proportional zur Niederschlagsmenge beschleunige, drosselt Jotz die Geschwindigkeit ihres Fahrrads wenn mehr Nass von oben kommt. So wie 1986 mitten in Holland. Als der Himmel sich über uns entleert, will ich nur noch ankommen, irgendwo, am Ziel, an einem Unterstand oder in einem
Schönwettergebiet. Jotz dagegen will nirgends mehr hin, wird langsamer, immer langsamer, bis sie droht vom Gegenwind rückwärts geschoben zu werden. Ich trete und trete, als könnte ich damit Regen und Sturm besiegen, kämpfe mit Wind und Wasser, mit dem Widerstand des Drahtesels und mit mir. So vorwärtsgetrieben, schaue ich mich nicht mehr nach der Freundin um. Die flatternden Zipfel meines gelben Regencapes klatschen mir an die nackten Beine, das Wasser läuft mir über den Pony, rinnt durch die Augenbrauen, über die Wangen und tropft vom Kinn direkt in meinen Ausschnitt. Es schüttet, als hätte oberhalb der Wolkendecke jemand einen gigantischen Putzeimer umgekickt. Weit und breit kein Haus mit schützendem Vordach, kein Geschäft, in das wir fliehen können, nicht mal ein Bushäuschen auf dem weiten, flachen Land. Nur Felder und Kanäle, Felder und Kanäle. Sind wir überhaupt noch auf der richtigen Route? Fahren wir noch neben den richtigen Feldern und Kanälen her? Ich sollte dringend mal wieder einen Blick auf die Straßenkarte werfen. Aber das Papier würde bei dem Guss sofort aufweichen. Ich strampele also weiter und suche die nasse Gegend nach den nächsten Fietspad-Schildern oder einem schützenden Dach ab.
Da entdecke ich in dem vom Regen zappelnden Grau vor mir einen unscharfen roten Punkt. Synchron zu meiner Beinarbeit schaukelt das unbekannte Objekt in meinem plastikgelb eingerahmten Gesichtsfeld vor mir auf und ab, wie auf hoher See. Und dann erkenne ich es: eine Telefonzelle! Rettung! Eine Telefonzelle! (Wie gut, dass es damals keine Handys gab, dafür aber öffentliche Münzfernsprecher in kleinen boxenartigen Häuschen, die an einen Aufzug erinnerten!) Ich blicke mich um, will Jotz winken, als Zeichen, dass wir uns gleich unterstellen können. Aber von ihr fehlt jede Spur. Oder sollte es sich etwas bei dem kleinen, weit entfernten blauen Knubbel
am Ende der Straße um meine Freundin handeln? Der Regen hält nicht inne, lässt keinen scharfen Blick in die Ferne zu, damit ich mir Gewissheit verschaffen könnte. Er prasselt weiter, als gelte es, alles Wasser dieser Welt über uns zu auszuschütten. So schnell wie möglich muss ich diesen Unterstand erreichen, um unserer Route zu überprüfen! Bei dem Wetter wäre es Torheit, einen unnötigen Umweg zu fahren. Und, wer weiß, vielleicht müssen uns diese Telefonzelle noch als Rettungsboot nutzen, wenn es so weiter schüttet. Ich musste sie erreichen, bevor sie weggeschwemmt würde. Endlich! Geschafft! Ich stelle mein Rad ab. Der Regen klatscht auf die blauen Müllsäcke, mit denen wir unserer Satteltaschen wetterfest verpackt haben. Ich schüttle mich wie ein Hund, der nach einem Bad aus dem See steigt, und rette mich in die Kabine. An der Scheibe fließt das Wasser herunter, die Zelle dröhnt von den aufklatschenden Tropfen und beschlägt auf der Stelle.
Hier drin riecht es nach altem Rauch und noch älteren Kippen. Die Karte verrät mir: wir sind auf dem richtigen Weg. Aber wie lange es hier so weiter schüttet, zeigt sie nicht an. Der blaue Punkt am Straßenende hat sich inzwischen in ein vom Wind aufgeblähtes Plastikmonster verwandelt, das sich strampelnd auf mich zukämpft. Endlich ist sie da! Endlich können wir weiter, schönem Wetter entgegen! Ich packe die Karte weg, zieh die Kapuze wieder über die durchnässten Haare und stelle mich trotzig dem Regen entgegen, noch bevor Jotz das schützende Dach erreicht hat.
„Wir können weiter! Ich weiß, wo es lang geht.“, sage ich und schnappe mir mein Fahrrad.
„Immer geradeaus, bis in den Ort hinein, dann links. Ist nicht mehr weit! Los geht´s!“
Meiner Meinung nach ist jetzt nicht der Augenblick für eine Verschnaufpause. Anders verhält es sich im Gemütsleben meiner Freundin. Sie will nicht weiterfahren. Nie mehr. Ich vermute, das ist der Moment, in dem Jotz es verflucht, mit mir Fahrradferien zu machen, in dem sie sich am liebsten auf den Boden legen und sterben würde, nur um keinen Meter mehr weiter durch den Regen fietsen zu müssen. Aber: Und es regnet weiter. Und wir fietsen weiter. Die eine schneller, die andere langsamer.
Aber nass sind wir am Ende beide gleichermaßen.
P.s: Übrigens endete das Ganze dann so: Im nächsten Ort kauften wir zwei Flaschen Martini, und hockten uns für die nächsten Stunden unter das Vordach des Getränkehandels. Mit dem Inhalt der ersten Flasche wärmten wir uns von Innen. Die zweite Flasche war als Geschenk für unseren nächsten Gastgeber gedacht. Allerdings hat sie ihr Ziel nie erreicht, sondern ihren Inhalt in Jotz Satteltaschen entleert. Nicht weiter schlimm, denn der Gastgeber war ohnehin im Urlaub. Glücklicherweise hatte die Nachbarin einen Schlüssel für die Hintertür. Und so schliefen wir, nachdem wir über den Gartenzaun geklettert waren, bei unseren Gastgebern im Trockenen, während diese in Südfrankreich in der Sonne schwitzten. Und einen Wäschetrockner gab es
dort auch.