Kopfüber

Unsere Sommer fingen an den Tagen an, an dem das Freibad seine Pforten öffnete, unsere Sommer und damit ein großes Stück Leben, Jahr für Jahr.

 

An jenen Tagen warteten meine Freundin und ich schon ungeduldig vor dem Gitter, das uns den ganzen Winter von unserem schönsten Zeitvertreib getrennt hatte wie der Fluss die Königskinder. Wir warteten auf die Bademeisterin, darauf dass sie sich mit dem klimpernden Schlüsselbund näherte und endlich aufschloss. Wir wollten unbedingt die ersten sein, die in das frisch eingelassene Wasser tauchten. Das Tor ächzte wie die Räder einer alten Dampflock nach all den kalten Monaten, an dem seine Scharniere nicht bewegt wurden.

 

„Eine Jahreskarte bitte.“

Ich schob mein Passbild und das abgezählte Geld durch den Schlitz im Schiebefensterchen und hielt kurz danach schon die Karte in der Hand, die das Glück versprach. Jetzt lag ein ganzer langer Sommer vor uns, ein Sommer, in dem alles möglich war. Wir rannten über die Wiese, auf der es sich die Enten während des Winters bequem gemacht hatten und nun irritiert davon watschelten. Weg mit den kratzigen Wollpullovern, raus aus den dicken Schuhen! Wir legten unsere Kleiderschichten ab, wie Schlangen ihre alten Häute und die Winterstarre wich aus unseren Gliedern. Dann stürzten wir uns gleichzeitig vom Startblock kopfüber in das frühsommerliche Nass, meine Freundin und ich, während der Bademeister noch die letzten Mülltonnen reparierte, Steinplatten von Moos befreiten und Duschköpfe justierte.

 

Mir hat niemand das Schwimmen beigebracht, kein Lehrer, nicht meine Eltern und schon gar nicht meine Geschwister. Lange genügte es mir im Nichtschwimmerbecken herum zu planschen. Als allmählich alle meine Freundinnen stolz die ersten Abzeichen auf ihren Badeanzügen spazieren führten und ich immer öfter alleine im flachen Wasser zurückblieb, hatte ich keine andere Wahl. Ich musste Schwimmen lernen, wenn ich nicht abgehängt werden wollte. Ich strampelte am Beckenrand so lange mit Armen und Beinen, bis ich den Dreh raushatte und schwamm.

 

So ähnlich verhielt es sich zwei Jahre später auch mit dem Köpper, der Königsdisziplin im Schwimmbad, ohne den man irgendwann nur noch eine schäbige Figur machte und niemanden beeindrucken konnte. Wieder waren es die anderen, die schon lange vor mir elegant wie Delfine kopfüber ins Wasser tauchten. Ich dagegen ließ mich vom Startblock fallen wie eine Mumie, die im Tigris versenkt werden sollte. Oder ich nahm die Treppe. Es war also mal wieder an der Zeit, aufzuholen und einen Kopfsprung zu probieren, wenn ich nicht der Idiot der Saison werden wollte. Um mich der Herausforderung langsam anzunähern, wollte ich es erst im Nichtschwimmerbecken probieren.

 

Ich saß lange auf dem Beckenrand und dachte darüber nach, wie ich meine Angst überwinden konnte. Keine Antwort. Also stand ich einfach auf, streckte die Arme über den Kopf, ließ mich nach vorne kippen, stieß mich im letzten Moment mit den Füßen von der Beckenkante ab und tauchte tatsächlich mit dem Kopf voran ins Wasser. Das chlorhaltige Wasser schoss mir in die Nasenlöcher und sprudelte durch meine Nebenhöhlen. Und noch ehe ich mich meines Erfolges erfreuen konnte, knallte ich hart mit dem Schädel auf den ribbeligen babyblauen Beckenboden. Das war der Moment absoluter Erkenntnis.

Zeitgleich mit dem Aufschlag wusste ich so klar, wie mir selten etwas klar war: das war die größtmögliche Dummheit, die mir einfallen konnte, mich kopfüber ins flache Wasser zu stürzen! Ich hätte es wissen müssen! Benommen fand ich zurück auf meine Füße, richtete mich im schultertiefen Becken auf, schaute mich um, ob die planschenden und Wasser spritzenden Kinder um ich herum etwas von meiner saublöden Aktion mitbekommen hatten. Dann krabbelte ich unauffällig zurück an den Beckenrand, bemüht ein unbedeutendes Gesicht zu machen. Dann wurde es langsam dunkel um mich herum. Als ich wieder zu mir kam, dröhnte mein Schädel, wie ein startendes Propellerflugzeug. Für heute hatte ich genug vom Schwimmen, ging nach Hause, legte mich auf den Fußboden und erzählte niemandem davon, dass mir so komisch war, dass sich um mich herum alles drehte, wie in einem Kettenkarussell und speiübel war mir auch, als hätte ich zu viel saurer Stäbchen verschlungen.

 

Drei Tage später stand ich schon morgens, als die Frühschwimmer stoisch ihre Bahnen zogen auf dem Startblock und probierte es erneut. Und dieses Mal klappte es. Ich tauchte in das Wasser hinein, wie eine Rakete auf ihrem Weg zurück zur Erde in die Atmosphäre und genoss die Kraft, mit der ich durch das Becken flog. Den Rest der Saison köpperte ich mich durch den Sommer, als wenn es der letzte wäre, bis die Bademeisterin hinter uns die schwere Gittertür zuzog und die Enten wieder auf die Liegewiesen zurückkehrten.