Unter vier Augen

Vielleicht hätte ich mir niemals diese Kopfschmerzen einfallen lassen sollen. Am Anfang tat es tatsächlich weh, vielleicht der Kopf, vielleicht war es auch Aufregung,  war es Hunger, war es der Wunsch, irgendwas Spannendes möge sich ereignen, damit endlich diese blöde Langeweile aufhörte. Ich hätte mir genauso gut Halsschmerzen, Schwindelattacken, rote Pusteln oder Schluckauf ausdenken können, aber mit den Kopfschmerzen hatte es einfach am besten geklappt.

 

Nachdem ich genug Kopfschmerzen zusammen gebracht hatte, ereignete sich tatsächlich etwas: meine Mutter ging mit mir zum Augenarzt.

 

Der Augenarzt hatte seine Räume gefährlich nahe an denen des Zahnarztes und der Zahnarzt mochte mich nicht. Ich machte ihm mit meinen Zähnen so viel Arbeit, dabei wollte er seine Zeit lieber mit Fußballgucken verbringen. Er stocherte so lang mit seinem Metallhaken in meinen Zähnen herum, bis endlich Löcher darin waren. Dann schimpfte er, dass ich zu viel Süßes äße, die Zähne nicht ordentlich putzte. Er hatte Recht und das war  schlimmer als das Stochern. Dann bohrte er mit allen Bohrern, die er in seiner Praxis hatte, als beseitigte er maroden Straßenbelag, nur um die Krater dann mit einer ekligen Masse wieder zuzukleistern.

So wie alle Ärzte, hieß der Zahnarzt "Doktor" mit Vornamen und "Kiefer" mit Nachnamen und ich habe mich immer gefragt, ob er Zahnarzt geworden ist, weil er Kiefer hieß oder ob er Kiefer hieß, weil er Zahnarzt war. Jedenfalls war das praktisch mit seinem Namen, denn so wusste so jeder, dass man bei ihm den Mund aufsperren musste und nicht die Haare frisiert, Schornsteine geputzt oder Kinokarten abgerissen bekam.

 

Ich hielt es für kein gutes Zeichen, dass Zahnarzt und Augenarzt direkt nebeneinander wohnten und ich wagte nicht, mir auszumalen, was der Augenarzt mit meinen Augen anstellen würde, nach den Erfahrungen, die ich beim Zahnarzt gesammelt hatte. Und sicher hatte der Zahnarzt dem Kollegen bereits mitgeteilt, das ich nur Arbeit machte. Aber weil der Augenarzt schon die Mutter meiner Großmutter und deren Mutter und auch die Mutter deren Mutter mit großen Erfolg untersucht hatte, hatte meine Mutter entschieden, dass es auch gut für mich sei, dorthin zu gehen. Allerdings wusste ich auch, dass René*, ein Junge aus dem Kindergarten, ebenfalls von diesem Arzt untersucht worden war. Kurz danach kam René nicht mehr in den Kindergarten und ich musste ihn im Krankenhaus besuchen. Seine Haare waren weg, er hat Striche und Kurven mit roten und schwarzen Filzstift auf den Schädel gemalt, als wäre sein Kopf ein Hubschrauberlandeplatz. Die Erwachsenen sagten, es sei ein Segen, dass seine Eltern mit ihm zu eben diesem Augenarzt gegangen seien. Trotzdem wollte ich keinen Hubschrauberlandeplatz auf dem Kopf und ich wollte auch weiterhin in den Kindergarten gehen. Es half alles nichts: Mama machte einen Termin.

 

Wir saßen in einem Raum mit Stühlen an den Wänden und hatten nichts anders zu tun, als zu warten. Genau wie beim Zahnarzt. Man könnte meinen, Warten sei einfach und nicht sonderlich anstrengend. Aber das stimmt nicht. Warten ist das Allerallerschlimmste, nur gebratene Leber mit Apfelmus ist noch schlimmer als Warten. Wir warteten also in diesem Zimmer mit den Stühlen so lange, bis ich mir vor Langeweile Kopfschmerzen zuzog.  Meine Mutter war der Meinung, das sei sehr gut, denn wie sollte der Arzt die Kopfschmerzen in meinen Augen entdecken, wenn es gar keine Kopfschmerzen gab? Als sich endlich genug Schmerzen in meinem Schädel angesammelt hatten, öffnete sich eine Holztür, die bis zur Decke hinauf ragte und ein alter, hagerer Mann im weißen Kittel kam heraus, sagte, dass er Herr Doktor Geißler heiße, aber er war kein Doktor. Er war ein Zauberer. Das sah ich sofort. Einer von der gruseligen Sorte. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Aber Mama nickte und schob mich in das stockdunkle Zimmer.  

 

Ich musste auf einen hohen Stuhl klettern. Der Zauberer, der besser Aug oder Apfel oder Pipulle geheißen hätte, weil er ja weder Schäfer noch Ziegenzüchter oder einer wie der Geißenpeter war und es darum überhaupt keinen Sinn machte, dass er Geißler hieß, schwenkte eine riesenhafte Apperatur an einem gigantischen Arm bis vor meine Nasenspitze. Das Ding sah aus, als könne man damit einen Parabelflug zur Milchstraße unternehmen oder bis weit, weit, weit in die Zukunft blicken. Beides wollte ich nicht. Dann befahl mir der Zauberer, das Kinn auf einer kleinen Bank der Apparatur zu platziere und durch die zwei Löcher zu gucken. Er  rollte auf einem Hocker ganz nah an mich heran, bis uns nur noch seine Zaubermaschine trennte, unserer Knie berührten sich, beinahe auch unsere Nasenspitzen, unsere Atemluft vermischte sich und er schaute von der anderen Seite durch die Löcher direkt in mich hinein. Ich erwartete, seine Augen zu sehen, aber stattdessen drang ein greller Lichtstrahl in die Tiefe meines Gehirns und suchte da alles nach meinem Kopfschmerz ab. Nach einer Zeit, die man gebraucht hätte, um drei große Eisbecher mit Sahne zu verspeisen, verkündete er stolz: „Übersichtig.“

 

Überirdisch, überdurchschnittlich, überlebensfähig, übervorsichtig, überhaupt, überallenwäldernistruh... Ratterte es in meinem Gehirn. Das Wort "übersichtig" war dort nicht abgespeichert. Meine Mutter machte „Aha“ und „Ach so“, stellte viele Fragen, die ich nicht verstand und bekam wenige Antworten, dich ich auch nicht verstand und Doktor Geißler sagte, wir sollten wieder kommen, bevor ich in die Schule gehe.

 

Ein halbes Jahr später hatte ich die wohl scheußlichste Brille auf der Nase, die die Krankenkassen bereit war, für mich zu bezahlen, ging in die Schule und war mordsmäßig übersichtig, denn der Zauberer Doktor Geißer hatte beschlossen, dass meine zwei Augen zum Gucken nicht ausreichten. Ich soltle die Welt mit vier Augen betrachten.

Weil ich in der Schule sehr damit beschäftigt war, mir die Namen der anderen Kinder zu merken, hatte ich die Kopfschmerzen bald vergessen. Aber als ich endlich jedem Kind seinen Namen zuordnen konnte,  fielen mir die Schmerzen wieder ein, denn es gab nichts anderes in der Schule zu tun. Vielleicht war es auch wegen der Aufregung, wenn ich alleine an die Tafel gehen musste, wegen dem Hunger, der schon weit vor der Pause kam und weil es in der Schule manchmal einfach so schrecklich langweilig war. Da können ein paar Kopfschmerzen die letzte Rettung sein. Aber die Brille hätte ich mir sparen können.

 

 


*lieber René, ich habe deinen Namen geändert. Heute weiß ich natürlich sehr wohl, dass es wirklich ein Segen war, dass der Augenarzt so schnell kapiert hat, was los ist. Zum Glück!