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Der Zuckerwattenprinz

Die folgende Geschichte ist in meinem Schreibkurs entstanden, als wir ein neues Schreibspiel ausprobiert haben. Dabei wird man mitten im Schreibfluss einer Geschichte mit Überraschungsimpulsen konfrontiert, die man in die Geschichte einbauen muss.

 

Wie das Spiel im Detail funktioniert, könnt ihr hier nachlesen und sehr gerne nachmachen. 

 

Die Überraschungsimpulse, die mich während meines Schreibprozesses in eine unerwartete Richtung gelenkt haben, markiere ich mit dem jeweils dazu passenden Foto. 


 

 

 

Ausgangssituation

 

Setting: Auf der Kirmes


Protagonistin: Eine Besucherin


Ihr Ziel/Herausforderung: Ihr wurde die Geldbörse gestohlen

 

Fein gemacht hatte sich Sabrina, denn es war Kirmes in der Stadt. Wie lange schon träumte sie davon, einem dieser schmucken Kerle näher zu kommen. Einen, der die Autoskooter lässig aus ihre Parkpositionen rangiert. Einhändig. Rückwärts. Stehend. Und mega sexy. Oder einen an der Schießbude, der jede Rose trifft. Nicht so wie Peter, der letzten Jahr Sprüche gekloppt hat, und hinterher hatte er sein sauerverdientes Geld vom Zeitungen-Austragen, nur für Fehlschüsse verpulvert. Nicht mal ein Kugelschreiber konnte Peter schießen. So ein Idiot! Nein, so einen wollte sie nicht kennen lernen. Von solchen Typen hatte sie genug! 

 

Sabrina mischte sich unter die Leute, die an der Geisterbahn standen. Vor ihr zwei Mädchen, die noch Argumente sammelten, um nicht hineinzugehen. Zu diesen Leuten gehörte Sabrina nicht. Sie nahm mit, was sich ihr bot. Sie war keine, die kniff, wenn es darauf ankam. Schiffsschaukel, Spiegelkabinett, Walze, Wilde Maus. Hatte sie alles schon probiert. Nur auf das Riesenrad hatte sie es noch nie geschafft. Und das lag nicht am Geld. Obwohl das natürlich vorne und hinten nicht reicht. Schon gar nicht für die Kirmes! Auch darum hätte sie gerne so einen schmucken Kerl an ihrer Seite. Einer mit den Taschen voller Geld oder einer, der hier arbeitet und alles freie Fahrt genießt. Wenigstens für die paar Tage wenn Kirmes war, würde sie mit so einem Händchen halten. Aber ihr Herz würde sie nicht verschenken. Nicht an einen, der in jeder Stadt mit den Mädchen flirtet! Sabrina wusste, zwei oder drei Fahrgeschäfte konnte sie sich heute von ihrem Taschengeld noch leisten. Dann war Schluss. Und das wichtigste war die Geisterbahn! 

Sie würde noch mal die Münzen zählen, die sie zusammengekratzt hatte, bevor sie gleich am Kassenhäuschen stand. Sie fasste sich an den Rücken, dahin, wo das T-Shirt endet und der Rock beginnt. Doch da war nichts! Sie hatte ihre Geldbörse in den Bund ihrer Strumpfhose gesteckt. Das wusste sie genau. Das tat sie immer, denn ihrer Erfahrung nach war das der sicherste Platz. Sie hatte das mit Plastikperlen besetzte Geldbeutelchen aus Kindertagen mitgenommen, das sie nur für Kirmes, Feuerwerk und Disco herausholte, weil es sich so gut in die Kleidungsfalten stecken ließ. So hatte Sabrina die Hände frei für bunte Getränke und zum Händchenhalten. Und dass es in dieser Stadt mehr Taschendiebe als ehrliche Bürger gab, wusste jeder Straßenköter. Sabrina nestelte an dem Bund herum, versuchte zu erfühlen, ob der Geldbeutel zwischen Strumpfhose und Bein hinabgerutscht sein konnte. Nichts. 

Dafür ertastete sie etwas anderes. Sabrina zog es hervor und hielt einen grünen Zettel in der Hand. Erst hatte sie vermutet, der Waschzettel ihrer Strumpfhose habe sich gelöst, einer dieser überlangen Anleitungen, die im Inneren von Klamotten genau da angebracht waren, wo es am meisten kratzte und die einem in diversen Sprachen erklären wollten, was bei 30° Grad zu waschen sei, nicht zu bügeln, dafür aber zu schleudern, was nicht ausgewrungen und nur mit Gleichfarbigem gewaschen sollte. Eine Bevormundung, die Sabrina zuwider war. Aber dieses Papier war keine solche Anleitung. Es war ein grüner Zettel, ordentlich gefaltet, wie eines dieser Briefchen, die Sabrina und ihre Freundinnen früher in langweiligen Unterrichtsstunden durch die Klasse wandern ließen. Also immer. Irritiert schaute sich Sabrina um. Ihr Blick verfing sich in der Familie hinter ihr in der Schlange. Die schieden als Absender aus. Auch nicht der Typ mit der blondierten Begleiterin, die sich in einen pinkfarbene Wurstdarm gezwängt hatte. Wer konnte ihr Portemonnaie unbemerkt aus dem Strumpfhose entwenden und stattdessen einen Zettel dort hinterlassen haben? Wirklich rätselhaft. Mit krakeliger Bleistiftschrift stand auf dem Papier: „Danke für die Kröten! Davon kaufe ich mir so viel Zuckerwatte bis mir schlecht ist. Dann küsst du mich und gemeinsam verwandeln wir uns in zwei Königskinder.“ Die Schrift kam Sabrina irgendwie bekannt vor. 

 

„Bitte?“ brummte der Mann im Kassenhäuschen. Sabrina hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon an der Reihe war. Das mit der Geisterbahn konnte sie jetzt vergessen! Wegen dem Geld und wegen dem Zettel. Also schlüpfte sie aus der Reihe und zwang den Gedanken zur Seite, dass sie die Familie hinter ihr für eine Schisserin halten könnten. Sabrina drängelte sich durch die Menge in die Richtung, wo sie den Zuckerwattestand vermutete. Sie würde sich ihr Geld wiederholen! 

Menschen schoben sie mit sich, drückten sie zur Seite. Sie wurde von der Masse erfasst wie Geröll bei einem Bergrutsch. Ellbogen bohrten sich zwischen ihre Rippen, Füße trampelten auf ihre neuen Turnschuhe und schweißnasse Achseln und Nacken kamen ihr näher, als es ihr angenehm war. Plötzlich ein höllischer Schmerz in der rechten Wade. Sie konnte nicht mehr auftreten, knickte weg und glitt zu Boden, wo sie von der bewegten Masse mitgeschleift wurde. Ihr Rock hatte sich im Rad eines Kinderwagens verfangen und zog sich zu um ihre Taille, während sie über das bier- und ketschupgetränkte Pflaster gezogen wurde. 

„Hilfe!“, rief Sabrina, erst zaghaft, dann lauter, bis sie schließlich brüllte und ihr die Augen schier aus den Höhlen traten. Schuhsolen kamen ihrem Gesicht und Leib gefährlich nahe. Plötzlich wurde sie kraftvoll von zwei Männerpranken hochgehoben und fand sich wenig später über den Köpfen der Menschen schwebend wieder. Im Zelt des Roten-Kreuzes säuberte eine nette Sanitäterin mit leichtem Damenbart Sabrinas Schürfwunde an Knie, Ellbogen und Kinn und redete beruhigend auf sie ein. 

„Vermutlich nur ein Wadenkrampf!“, stellte sie fest. „Der hat dich in die Knie gezwungen. Glück gehabt, dass die sich nicht zertrampelt haben.“ Sie reichte Sabrina einen großen Becher mit einer sprudelnden trüben Flüssigkeit, die zitronig schmeckte und bei jedem Schluck von innen und außen die Nase kitzelte. Sabrinas Hand zitterte. Das Getränk zitterte. 

„Magnesium! Bringt dich wieder auf die Beine!“ 

„Ich muss zum Zuckerwattestand. Schnell!“ 

„Nix da! Erst austrinken, Froollain!“

Sabrina kippte den restlichen Inhalt des Bechers in Gras, als die Sanitäterin gerade eine Nachricht auf ihrem Handy checkte. Dabei lachte sie tief und gruselig. Sabrina schlicht davon. Wenn der Zuckerwatte-Stand wieder da aufgebaut war, wo er auch im letzten Jahr gestanden hatte, musste sie nur hinter dem Riesenrad rum und wäre schon da. Sabrina zwängte sich zwischen den Wohnwagen der Schaustellerfamilien hindurch, schlüpfte unter Wäscheleinen, kletterte über Anhängergabeln riesiger Sattelschlepper bis hinter das Riesenrad. Inzwischen dämmerte es bereits und die roten, grünen und dreckiggelben Lämpchen blinkten bis hoch hinauf in den Himmel. Durch ihre Gehörgänge drängte sich das Melodiengewirr diverser Fahrgeschäfte, das Brüllen des Losverkäufers, Rufen und Grölen, Klingeln und Bimmeln. Autoskooter, Kinderkarussell, Entenangeln, Schießbude. 

Sabrina blickte am Riesenrad hoch. Der Himmel hatte dieses abendliche Blau, das eigentlich schon grau war… Sie blieb stehen. Sie liebte diese Zeit des Tages, wenn sich die natürlichen Farben zurückzogen. Und Sabrina liebte die Kirmes mit ihrer Musik, den Gerüchen und der Chance auf das große Abenteuer. Eines Tages würde sie es auch schaffen, mit dem Riesenrad zu fahren. Ganz bestimmt. Einmal ganz entspannt in einer der bunten Gondeln über der erleuchteten Kirmes, über der Stadt schweben… Ein Lichtermeer von oben. Wie wunderbar müsste das sein! Sabrina fädelte sich wieder ein in die Menschenmenge und ließ sich Richtung Zuckerwattestand schieben. Plötzlich blieb das Riesenrad ruckartig stehen, etwas zögerlicher kam auch der Menschenteig zum Stillstand. Die nahe Musik erstarb und machte Platz für die entfernteren Töne und Geräusche auf dem Platz. Das tausendköpfige Kirmesgewimmel schaute um sich, bis alle Gesichter, Nasen und Augenpaare vom Riesenrad angezogen wurden. Ganz da oben, da war irgendwas, wo sie alle hinblicken mussten. Unmöglich nicht hinzuschauen. Da! Da hing doch wer! Plötzlich brach ein ohrenbetäubendes Geschrei aus der Menge heraus und die Masse begann hin- und herzuschwingen wie Wackelpudding bei Erdbeben. Da oben hing ein Mensch. Im Gestänge des Riesenrades. Baumelte an einem Seil oder Kabel. Stranguliert. Was für ein Abgang! Gruselig. Und erhaben zugleich. Schon bahnten sich Sanitäter und Polizisten den Weg zum Riesenrad. Auch die Helferin mit dem Damenbart war dabei. Mit ihrem Magnesiumtrunk war da nichts mehr zu machen. Und plötzlich erkannte Sabrina, dass es Peter war. Peter baumelte hoch oben über der Kirmes! Peter, der Idiot. Natürlich! Er hatte den Zettel geschrieben! Es war seine stolpernde Handschrift. Schon in der Schule war er nicht in der Lage gewesen As und Os so zu gestalten, dass man sie voneinander unterscheiden konnte. Da wurden aus Rosen Rasen und aus einer Ananas eine Anonas oder eine Ananos. Dass Sabrina das nicht sofort ins Auge gesprungen war! Aber warum hatte er ihr den Zettel zugesteckt? Und warum hatte er nicht am Zuckerwattestand auf sie gewartet? Wollte er, dass sie ihn ganz sicher dort oben hängen sah? Reichte es ihm nicht aus, über einer anonymen amorphen Masse menschlicher Körper zu hängen, denen er nicht mehr bedeutete als ein schaurig-schöner Moment auf der Kirmes? Musste dieser Abgang was Intimeres haben… Und küssen wollte er sie doch auch! Aber doch nicht so mausetot! Und hoch oben! 

Ein Losverkäufer hielt Sabrina einen Eimer unter die Nase. 

„Na? Noch ein Los?“ 

„Nein. Bestimmt nicht. Sehen Sie nicht, was passiert ist?“ Sabrina konnte nicht fassen, dass dieser Typ einfach weitere seine Lose feilbot. 

„Ob du ein Los kaufst oder nicht. Der Typ kommt nicht mehr lebendig runter.“

„Hab sowieso kein Geld!“ 

„Ich bezahle.“, sagte eine Stimme hinter Sabrina. Es war Peter. Er hielt ihr perlenbesetztes Portemonnaie in den Händen, holte einen Fünfer heraus und kaufte davon eine Hand voll Lose. 

„Aber…“, Sabrina schaut Peter an, dann hoch zum Riesenrad, wo die Sanitäter sich inzwischen an der Gondel abseilten, um zu dem Toten zu gelangen, dem toten Peter, der da oben hing und ihr hier unten gleichzeitig Lose spendierte. Von ihrem Geld. 

„Nun mach schon!“, sagte Peter. Seine Stimme klang seltsam durchsichtig und brüchig wie Glas. Sabrina riss mit zittrigen Fingern das erste Los auf und las: 

„Du hast gewonnen!“ Auch das zweite, das dritte, das vierte, fünfte, sechste Los… Ein Gewinn nach dem andere. Das war doch nicht zu fassen! Noch nie hatte sie was gewonnen. Die Musik setzt wieder ein und die Menschenmenge bewegte sich weiter, rempelte und drückte, zog und schob. 

„Peter?“ Sabrina blickte sich um. Er war verschwunden. Nicht mehr da. Dabei hätte Sabrina ihn bei seiner Größe weit über die Köpfe der anderen entdecken müssen. Aber kein Peter zu sehen. Als wäre er niemals da gewesen. Sabrina blickte vor sich auf den Boden. Da lagen die Lose, die sie gerade aufgerissen hatte. Alles Nieten. 

„Komm,“ sagte der Losverkäufer zu Sabrina „Es gibt eine neue Loopingbahn. Ich lade dich ein.“

Sabrina hakte sich bei dem Kerl unter flog mit ihm durch das Gedränge. Securities schoben die Menschen energisch zur Seite. Dann trugen die Sanitäter einen mit einem Tuch abgedeckten Körper auf einer Trage an ihnen vorbei. 

„Irgendeinen erwischt es immer.“, sagte der Losverkäufer und legte seinen Arm ganz eng um Sabrinas Taille, zog sie an sich und küsste sie fest und schnell. Er schmeckte nach Zigaretten und Zuckerwatte. Aber in Königskinder verwandelten sie sich trotzdem nicht. Dabei hatte sich Sabrina extra fein gemacht, denn es war Kirmes in der Stadt.