Das ist doch kein Zufall

In einem Hochhaus zu wohnen, das muss toll sein! Dahinter ein Stück gepflegter Rasen mit Schaukel und Sandkasten. Und das ganze Haus voll Familien mit Kindern. Jederzeit wäre jemand da zum Spielen. Und dazu einen Haustürschlüssel, klein, silbern und mit vielen Zacken: modern und komfortable. Davon habe ich als Kind geträumt.

Stattdessen wohnten wir in einem Hexenhaus, in dem eine ganze Walpurgis-gesellschaft Platz gehabt hätte, in der Mitte ein riesiges Treppenhaus, wie gemacht für einen Scheiterhaufen. Statt Holzscheite zog hier jedes Weih-nachten ein prächtiger Nadelbaum ein und verschwand erst wieder kurz vor Ostern, wenn er kahl und trocken war. Den Stern an der Spitze befestigte meine Mutter, in Ermangelung eines flugfähigen Besens, indem sie sich im oberen Stockwerk gefährlich weit über das wackelige Holzgeländer lehnte.

Für ein Haus dieser Art brauchte man natürlich einen passenden Schlüssel. Er war groß wie ein Samuraischwert, hatte einen Bart wie Zauberer Petrusilius

Zwackelmann und wog so viel wie eine eiserne Kanonenkugel. Diesen Schlüssel

konnte man nicht unauffällig am Band um den Hals tragen und unter dem T-Shirt verbergen. Man konnte ihn auch nicht in die Hosentasche stecken, ohne sich damit die Gedärme zu perforieren. Meist ruhte der Schlüssel am Grund des Schulranzens oder lagerte in seinem Versteck.

Die Haustür unserer märchenhaften Lebkuchen-Burg war dick und tonnenschwer, hatte eine kalte eiserne Türklinke, die ich lange Zeit nur mit zwei Händen herunterdrücken konnte. Es gab kein Zufallen und kein versehentliches Aussperren in diesem Haus, wie bei normalen Leuten. Wollten wir unser Haus abschließen, bedurfte es den Einsatz von Muskelkraft um den Schlüssel im Schloss zu drehen oder eines wirksamen Zauberspruchs, den ich mir nicht merken konnte. Also ließen wir meistens einfach offen. Neben der Haustür befand sich das Toilettenfenster, schmiedeeisern vergittert. Es war immer angelehnt, nicht etwa, um unangenehme Gerüche hinaus- und Sauerstoff hineinzulassen, was ohnehin durch die fingerdicken Schlitze im Mauerwerk gewährleistet war, nein, hier lag der Schlüssel versteckt, jederzeit griffbereit für Familienmitglieder, deren Freunde und Einbrecher aller Art, falls man doch einmal vor verschlossener Tür stehen sollte. Das Klofenster ließ sich mit leichtem Druck aufstoßen und so konnte man auf dem innen liegende Fensterbrett nach dem Schließwerkzeug angeln. Aber aufgepasst! Ein falscher Griff beförderte das Ding gefährlich nahe Richtung Kloschüssel. Passierte das, half nur noch Plan B, um ins schützende Haus zu kommen. Wahrscheinlich hätte man die Tür auch mit der bloßen Hand aufschließen können, wenn man den Arm nur so tief ins Schlüsselloch eingeführt hätte, wie der Besamer den seinigen der Kuh ins Hinterteil. Oder man hätte bäuchlings durch den Schlüsselgang direkt in den Hausflur robben können. Aber das haben wir nie probiert. Plan B sah vor: Wer klein, wendig und schlank war, konnte sich durch die Zwischenräume des schmiedeeisernen Fenstergitters direkt in das Haus und vor den Lokus wringen. Dafür musste man erst auf den Ziersockel der Fassade steigen, sich mit beiden Händen am Gitter hochziehen, bis man auf dem Fenstersims kniete. Dann konnte man entweder mit den Füßen voraus durch den runden Zwischenraum schlüpfen, den das Gittermuster bildete. Dabei lief man jedoch Gefahr, sich den Rücken an den Zierknöpfen des Gitters aufzuratschen. Oder man tauchte kopfüber durch das Gitterrund und erreichte dann in einer handstandähnlichen Verrenkung das stille Örtchen. Dann musste man nur noch die Tür mit einem der Schlüssel im Kasten von innen aufschließen, wiederum unter Anwendung von Muskelkraft oder besagten

Hexenreims. Oder aber man musste durch dunklen Keller tapsen, am gruseligen

Kohlenloch vorbei, durch Spinnenweben und Geisterstaub hindurch und den Riegel vom Kellerportal zur Seite schieben. Das war etwas für Fortgeschrittene.

Als meine Hüften breiter wurden und mein Hinterteil sich rundete, kam ich immer schwerer durch das Gitter, bis ich eines Tages, halb über der Toilette schwebend, halb außerhalb der Hauses, einsehen musste: der Zwischenraum war für mich zu klein geworden. Nicht so für meine Freundin, die nur länger, nicht aber runder wurde, was unfair war, aber für diesen Zweck sehr praktisch. Sie passte auch noch die nächsten Jahre hindurch. Wenn ich mal meinen Schlüssel vergessen hatte und vor verschlossener Haustür stand, lief ich also einfach zu ihr rüber und bat sie,für mich durch das Gitter zu schlüpfen. Als auch meine Freundin ihre Kinderfigur verlor, zogen wir in ein anderes Haus, in den zweiten Stock, mit einem Schlüssel, klein, silbern und mit vielen Zacken. Es war zwar kein Hochhaus, aber immerhin lag unsere Wohnung im zweiten Stock. Also haben wir uns statt eines neuen Schlüsselverstecks endlich einen flugfähigen Besen angeschafft, mit dem wir bis zum Toilettenfenster hochfliegen konnten, wenn uns mal die Tür zufiel. Meine Eltern, die noch immer dort wohnen, bedienen sich inzwischen ob ihres Alters eines modernen Flugsaugers. Das ist einfach praktischer für sie. Ich habe mich aus alter Gewohnheit wieder für ein knotiges Hexenhaus

entschieden. Aber dieses Mal mit Super-Duper-Zauberschlüssel. Mein Sohn

allerdings träumt davon, wir könnten unsere Haustür statt mit einem lästigen Schlüssel mit einem komfortablen Fingersensor öffnen, so wie sein Freund in dem nagelneuen Superhaus mit gepflegter Rasen, Schaukel und Sandkasten.