Träumen in Räumen

Wie oft sitzt oder steht man irgendwo und wartet, auf die Kinder, die im Musikunterricht oder beim Sport sind, auf die Reperatur des Autos, auf den Zug, auf das Vorstellungsgespräch, darauf, endlich zum Chef vorgelassen zu werden, beim Arzt im Wartezimmer oder darauf, dass der Liebste endlich anruft. Diese Zeit kann man doch viel schöner füllen, als sich verärgerter Grübelei nachzuhängen. Ich nutze diese Zeit immer häufiger dafür, um den Raum, in dem ich mich gerade befinde, wahr zu nehmen, seinen Charakter zu erfassen, zu erspüren, was er mit mir macht und dafür Worte, Bilder, Vergleiche und Formulierungen zu finden.

vie. Spaß beim Lesen meiner verschiedenen Raumbeschreibungen.


Der Reifenhändler

Als ich gegen die schweren Glastür drücke, gibt diese wie von Zauberhand nach und schwingt großzügig einladend auf. Süßer Geruch schlägt mir entgegen und dominiert für einige Sekunden meine gesamte Wahrnehmung. Betörend abstoßend. Der Geruch von neuen Autoreifen, vielen neuen Autoreifen. Erst langsam kommt die Nase wieder zu sich und mein Gehirn macht Platz, für anderes. Über mir ein gigantisch hoher Raum, hoch wie eine Kirche. Ich bin das erste Mal hier, weiß noch nicht, welcher der Pulte für diese Art von Kundinnen wie mich vorgesehen ist und zögere. Ich befinde mich mitten in einem verchromten Werkstattparadies mit sauberen Mitarbeitern mit weißem Hemd und lockerer Jeans, mit gekämmten Haaren und rasiert. Wie im Restaurant fragt mich der seit mindestens zwei Generationen integrierte türkische Mitarbeiter, womit man mir behilflich sein kann. Einen Sekt auf Eis könnte ich bestellen. Dann entscheide ich mich für Winterreifen.Tastenklapper. Das Ding ist geritzt. Ich gebe dem sauberen Mann meine Autoschlüssel für mein vollgemülltes Auto. Er lässt es hinter einem monströsen Werkstatttor verschwinden. Armer kleiner Wagen, so ganz alleine! Ich nehme ich auf einem der Polstermöbel Platz, zwischen Dattelpalme und stylisch lackierten Ölfässern. Autowerkstatt goes launch. Ich hätte doch den Sekt bestellen sollen! Ein Kunde mit wenig grauem Haar und ausgebeulter Jeans saugt den Inhalt seines Handys und eines Pappbechers in sich auf. Mein Blick schweift über eine Hochglanzzeitschrift, die eine gigantische Vielfalt an Felgen für den Winter anbietet. Für mich sehen alle gleich aus. Rund. Silber. Ein Sternmuster in der Mitte. Mandalas für Männer, schießt es mir in den Kopf. Schon nach wenigen werde ich aufgefordert meine Geheimnummer in ein kleines Tastenfeld zu tippen, um einen mehrstelligen Betrag von meinem Konto fressen zu lassen. Verdeckt und diskret natürlich. Schade, dass er schon vorbei ist mein Aufenthalt im Reifenparadies. Aber der nächste Reifenwechsel kommt bestimmt!