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Blindflug - Schreiben ohne Brille

Kurzsichtig, weitsichtig, übersichtig, Presbyopie, Hornhautverkrümmung, Gleitsichtbrille, Kontaktlinsen ... Kund*innen von Optikerei-Fachgeschäften wissen, wovon ich spreche. Fehlsichtigkeit ist nicht nur nervig und hinderlich, sie sagt auch viel über dich aus, über deine Art, in die Welt zu blicken, über deine Fähigkeit dich zu fokussieren und Dinge in den Blick zu nehmen. Als Eyes-Userin mit dem Hang zum literarischen Ausdruck liebe ich diese Form der Metaphorik! Vielleicht erzähle ich euch an anderer Stelle, wie ich diese Augen-Metaphern nUnze bei der Gestaltung von literarischen Figuren, und wie ich mich durch meine Fehlsichtigkeit selbst ausdrücke. Aber heute soll es um einen Schreibtipp für Brillenträger*innen gehen: 

Sicherlich kennt ihr die Methode der Écriture automatique, dem Schreiben ohne abzusetzen, nachzudenken, anzuhalten. Es bringt dich in Schreibfluss, es schwämmt Unbewusstes ins Bewusstsein und es regt die Kreativität an.

 

Der Zauber dieser Methode besteht darin, dass du schneller schreibst, als dein innerer Kritiker an deinen Worten und Ideen hermnörgeln kann. Er ist einfach zu langsam. So machst du dich frei von hinderlicher Selbstkritik. Wenigstens für die Zeit, in der du ununterbrochen weiter schreibst. Bestenfalls kommst du sogar in den Flow. 

Dieses automatische Schreiben wollen wir heute ein bisschen variieren.

 

Wenn du unter Fehlsichtigkeit leidest und ohne Brille das geschriebene Wort auf Bildschirm oder Papier vor dir nicht entziffern kannst (wie ich), könnte diese Übung genau richtig sein für dich.

 

Statt uns über die Unschärfe zu ärgern, lassen wir diese für uns arbeiten. Du schreibst deine tägliche Aufwärmung einfach im Blindflug. Und das geht so:

Brille weglegen und losschreiben. Am besten mit der Hand. Aber Bildschirm und Tastatur geht auch, tut mir allerdings mehr in den Augen weh. Und dann einfach nur: Schreiben, schreiben, schreiben. Außer von einem Wort zum nächsten zu hüpfen, nicht absetzen, nicht nachdenken, nicht unterbrechen lassen. Mindestens für 10 Minuten. Schreib weiter, ganz egal, ob du dir ein Thema vorgenommen hast, zu dem dein Hirn loswerden darf, was die grauen Zellen hergeben, oder ob du deinen Stift drauf los plappern lässt, als habe er ein Eigenleben.

 

Und weil du selbst nicht lesen kannst, was du gerade schreibst, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich auf deinen Gedankenfluss zu verlassen. Nachlesen ist gerade nicht.

 

Versuche gar nicht erst, zu entziffern, was du gerade schreibst. Entspanne deine Augen und betrachte den steigenden Tinten-Spiegel auf deinen Blatt wie ein abstraktes Gemälde. Und schreib weiter, bis die Zeit abgelaufen ist...

Bei mir passiert dabei dieses:

Durch das Schreiben im Blindflug sehe ich zwar, wie sich meine Seite langsam mit kryptischen Zeichen füllt, aber ich habe keine Chance, mit den Augen zurückzuspringen und einen verlorenen Faden wieder aufzunehmen, wenn ich einen Augenblick nicht fokussiert war. Ich muss also dran bleiben, muss den Fokus halten, muss mir selbst zuhören, sonst verliere ich den Anschluss.

 

Zugegeben: es ist anstrengender als das Schreiben mit Brille. Der Gewinn für mich ist der, dass ich mir selbst einen höheren Vertrauensvorsprung gewähre. Ich verlasse mich darauf, dass mein Kopf immer weiter mit mir spricht, ohne dass ich viel dazu beitragen muss, außer meinen Stift auf dem Papier zu bewegen. 

Hier die Kurzform der Übung: 

  1. Notizbuch und Stift bereit halten
  2. Brille absetzen
  3. Schreiben, ohne anzuhalten (mindestens 10 Minuten)
  4. Nicht zwischendurch die Brille wieder aufsetzen!
  5. Die Augen entspannen
  6. Mit der Hälfte der Aufmerksamkeit dem Geplapper im Kopf folgen und in Schrift umwandeln
  7. Mit der anderen Hälfte der Aufmerksamkeit das abstrakte Gemäld auf deinem Papier wertfrei betrachten. 

Wenn du magst, berichte gerne, wie es dir mit dieser Übung ergeht.