Pippi Grows Older - Katia Siegfried

Sei Pippi, nicht Annika!, titelte die Morgenpost.

Der Slogan war knackig, doch die Worte schmerzten. So wie immer, wenn Annika mit Pippi verglichen wurde und dabei den Kürzeren zog. Nach 80 Jahren, sollte man meinen, hätte sie sich daran gewöhnt. Doch dem war nicht so.

Annika schüttelte den Kopf und warf die Zeitung auf den runden Esstisch, wo sie mit einem lauten Knall landete. Tommy schaute erschrocken auf. „Grundgütiger! So klecker ich noch auf ihre Wangen und Nase“, fluchte er unter seiner Sauerstoffmaske und legte Rührschüssel und den Pinsel beiseite.

Annika verkniff sich ein kleines Lachen. „Das sind dann eben die berühmten Sommersprossen. So erkennt sie wenigsten jeder.“

Tommy wollte etwas erwidern, doch stattdessen schaute er auf die Uhr an der Wand hinter Pippis bequemem Ledersessel. Dabei streifte sein Blick die magere alte Frau, der er gerade eine Plastikhaube über das frisch gefärbte Haar gezogen hatte. Ihre Lider waren geschlossen – wie die meiste Zeit des Tages.

„In zwanzig Minuten waschen wir es raus“, sagte er und stöhnte müde. „Hoffentlich wird es nicht wieder pink“. Trotz seiner schroffen Art entging Annika die zärtliche Berührung nicht, als Tommys aufgeschwemmte Finger sanft über Pippis faltige Wange glitten. Ihr Bruder hatte schon immer einen Narren an Pippi Langstrumpf gefressen. So, wie alle.

„Weck sie nicht auf“, warnte Annika. „Das Presseteam der Starke-Kinder-Kampagne kommt später vorbei. Diesmal muss sie einfach klar im Kopf sein.“ Ein Anflug von Unmut huschte über ihre verhärmten Züge.

„Sie ist dement, Annika! Das kannst Du ihr wohl kaum übelnehmen.“ Tommy starrte seine Schwester vorwurfsvoll an. Als diese nicht reagierte, griff er nach seinem Rollator und schlurfte Richtung Bad, jeder Schritt quälend langsam.

„Und vergiss nicht, Greta Thunberg zurückzurufen“, rief Annika ihm nach. „Die Kleine will wissen, ob Pippi beim Protestmarsch der Klimarebellinnen dabei ist. Will wohl mit der doppelten Kraft der Flechtzöpfe die Erderwärmung verhindern. So was spricht die Jugend von heute an.“ Annika hatte witzig sein wollen, doch Tommy bekam es prompt in den falschen Hals.

„Und lässt den Rubel rollen, nicht wahr?“, bemerkte er schnippisch. Schwer atmend, lugte er hinter der halbgeöffneten Badezimmertür hervor. Das Sauerstoffgerät gab einen leisen Alarmton von sich.

„Als wenn du nicht auch von den Werbeeinnahmen profitierst“, schnappte Annika prompt zurück. Wie sie es hasste, wenn Tommy den Moralapostel spielte. „Ohne Pippis Geld würden wir längst alle auf der Straße sitzen. Vergiss das nicht, mein Lieber!“

Tommys Gesicht färbte sich hochrot. Doch gerade als er zum Schlagabtausch ausholen wollte, unterbrach das Läuten der Türglocke den geschwisterlichen Streit.

Pippi, die bis dahin keine Notiz von den Reibereien ihrer Freunde genommen hatte, riss das laute Gebimmel aus ihrem unergründlichen Dämmerzustand.

„Die Prusselise ist da“, stieß sie urplötzlich hervor, die brüchige Stimme heiser und schrill. „Sie will mich holen. Geh weg! Weg mit dir, alte Hexe.“ Pippis Arme ruderten durch die Luft, als wolle sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen. Ihre trüben Linsen spiegelten nackte Angst.

Geistesgegenwärtig lief Annika zu Herr Nilssons Stall und setze Pippi das Meerschweinchen mit den bräunlichen Haarwirbeln auf den Schoss. Pippis Hände glitten suchend durch das flauschige Fell und gottlob, die alte Dame beruhigte sich wieder. Annika wusste, es war eine lahme Täuschung, aber seit die Affenhaltung unter das Washingtoner Artenschutzabkommen fiel, musste eben das putzige Haustier ihrer Enkelin herhalten. Pippi bemerkte den Unterschied ohnehin nicht mehr.

Tommy, der zur Haustür gegangen war, hatte unterdessen die Gemeindeschwester hereingelassen. Mit trippelnden Schritten kam diese ins Wohnzimmer spaziert, ein kleines Arztköfferchen in den behandschuhten Händen. Auf den schmalen Lippen zeichnete sich ein zuckersüßes Lächeln ab. Schon ihr Anblick löste bei Annika Übelkeit aus.

„Guten Morgen, liebe Frau Langstrumpf“, säuselte Fräulein Prysselius mit ihrer hohen Fistelstimme. „Wird da jemand hübsch gemacht?“

Annika entging das kurze Flackern in Pippis Augen nicht, doch jede weitere Reaktion auf die Ankunft der Prusselise blieb aus. Es schien, als hätte Pippi sich zum Schutz in ihre kleine Geheimwelt zurückgezogen.

Fräulein Prysselius sah sich in dem kleinen Wohnzimmer mit seinem bunten Sammelsurium an Möbeln, Antiquitäten, Andenken und Bildern um und rümpfte die Nase. „Sind Sie sicher“, fragte sie unverblümt, „dass Sie Frau Langstrumpf nicht in unserer örtlichen Pflegeeinrichtung unterbringen wollen?“ Sie zog die Augenbraue hoch, was ihr einen noch strengeren Eindruck verlieh. „Wir bieten einem alten Menschen alles, was er braucht.“

„Was Frau Langstrumpf braucht, sind ihre Freunde und eine vertraute Umgebung“, blaffte Tommy, noch bevor Annika diplomatisch, aber bestimmt, das schäbige Angebot der Prusselise zum zigdutzendsten Male ablehnen konnte.

Pippi hatte absolut recht. Diese Frau war eine Hexe und mitnichten handelte Fräulein Prysselius aus Nächstenliebe oder gar Selbstlosigkeit. Annika schnaubte innerlich vor Wut. Dass die Prysselische Heil- und Pflegeeinrichtung seit Jahren rote Zahlen schrieb, war ein offenes Geheimnis im Ort. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, was seine Leiterin wirklich plante. Pippis Bekanntheit sollte das Heim sanieren und Frau Prysselius ein hübsches Sümmchen zum Ausstand bescheren. Aber soweit würden Tommy und sie es nie und nimmer nicht kommen lassen.

„Wie sie wissen, können wir bei Anzeichen von Verwahrlosung oder gravierenden gesundheitlichen Störungen den Amtsarzt konsultieren“, riss die Prusselise Annika aus ihren Gedanken. „In solch einem Fall wäre die Einweisung in meine Anstalt obligatorisch.“ Sie lächelte triumphierend.

Pippi gab einen wimmernden Ton von sich und krallte die Finger tief in Herrn Nilssons Fell. Wie ein Fels in der Brandung stellte Tommy sich neben sie und flüsterte beruhigende Worte in das Ohr der langjährigen Gefährtin.

Annika schloss indes die Augen und hielt angespannt die Luft an. Nun war es also soweit, dachte sie. Längst schon hatte sie den Tag kommen sehen, an dem Pippi Langstrumpfs fragiler Geisteszustand allen bekannt werden würde. Dennoch, sie hatte gehofft, dass er in weiter Ferne läge. Hier ging es schließlich nicht nur um den Verlust all dessen, was sie liebten und wofür sie lebten, sondern vielmehr um die Dekonstruktion einer Ikone. Einer Ikone, deren Image sie, Annika, die vergangenen Jahrzehnte im Hintergrund aufgebaut und liebevoll gepflegt hatte. Die Zeit war reif für eine Entscheidung. Und für einen Abschied.

Annika sah zu Tommy hinüber, der in stummem Einverständnis nickte. An Frau Prysselius gewandt, sagte sie schlicht: „Wir denken darüber nach.“ Und noch bevor die Gemeindeschwester etwas erwidern konnte, hatte Annika sie schon zur Tür und in den winterlichen Schneeregen hinausgeschoben. Ein Auf Wiedersehen schenkte sie sich.

„Lass mich rasch die Taschen packen“, sprach Annika zu ihrem Bruder, nachdem sie schweigend am Fenster gestanden und zugesehen hatten, wie die Prusselise unverrichteter Dinge durch das Gartentor gestapft war. „Ich hoffe, alter Knabe, du weißt noch wie man die Hoppetosse steuert“. Sie hatte nur geflüstert, doch Tommy hatte Annika verstanden und nickte knapp.

„Es ist lange her, dass wir uns zuletzt eingeschifft haben“, erwiderte er schließlich und drückte Annikas kühle Hand. „Aber eine Reise ins Takatukaland kann nur ein gutes Ende nehmen“. Tommys Blick strahlte grimmige Entschlossenheit aus, aber auch Zuversicht und einen Funken Vorfreude.

„Dann ist es also beschlossen“. Annika atmete tief durch. Sie hockte sich auf Augenhöhe vor ihre langjährige Freundin. Kurz zögerte sie noch, dann sprach sie mit sanfter Stimme: „Zeit zu gehen, Pippi!“.

Flux öffnete die alte Dame ihre Augen. „Richtung Südsee?“, fragte sie fröhlich.

„Nach Hause“, erwiderte Annika.