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Pippi Grows Older - Lela Heinrich

„Das Zeug bringt dich noch um, Pippi.“, sagt Annika mit spürbarem Unterton. Zugleich ist diese Belehrung hinfällig, wie ihr im selben Moment bewusst wird, als sie konzentriert die Lippen aufeinanderpresst und mit ihrer vom Tremor gezeichneten Hand die Kaffeetasse zum Mund führt. Pippi hustet kichernd, weniger weil sie sich amüsiert, sondern weil sie es noch immer nicht geschafft hat ihren Scham gänzlich loszulassen. Ehe Pipi den Mund öffnen kann, rennen in diesem Moment die Kinder weinend und schreiend an ihnen vorbei. Vor Schreck über die grelle Lautstärke, erhärten sich Pipis Muskeln sofort, aber Annikas Hand auf ihrer ist schneller. „Mamaa, der Fynn hat zu mir gesagt, dass...“ Es ist ihr geliebtes Urenkelkind und für einen nun noch schlimmeren selbst-beschämenden Moment muss Pipi nachdenken, welchen Namen ihr 9. Enkelkind von den insgesamt 14 ihrer 4 Kinder trägt. 

Bild von M W auf pixabay

Es ist Pipis 90. Geburtstag, die Villa Kunterbunt glänzt wie nie und das macht den Tag so furchtbar traurig. Ihr ältester Sohn hatte dafür extra die Villa neu anstreichen lassen, was Pipi jedoch nicht über all die Verluste hinweghilft, die dieses Haus, ihr ganzer Stolz und Schatz, schon hinter sich hat. Und doch – sie hat sich geschworen heute WIRKLICH loszulassen. Besonders ihre Trauer, die sie dann und wann einfach überfährt, ebenso wie ein Zug, der nicht anzuhalten scheint und dann auf einmal um die Ecke peitscht, genau in dem Moment, in welchem Pipi nie damit rechnen kann. Sie hat mithilfe ihrer Freundin und Physiotherapeutin, die in etwa so alt wie ihre 9. Enkelin ist (natürlich ist ihr Name Martha, sowas vergisst eine kluge Großmutter nicht!) eingeübt, wie sich der Trauer-Zug in ihrem Kopf umlenken lässt, sobald er sich ankündigt. Dies geschieht meist, wenn sie Erinnerungen wahrnimmt, die sie sehnsüchtig werden lassen. Schwer und gleichermaßen hoffnungsfroh atmet Pipi aus. Sie weiß es wird vorüber gehen und ihre traurigsten Tage schicken ihr danach immerzu Stunden voller Liebe. 

Foto von Frank Pfeifer auf pixabay

Und heute ist ein Tag der Liebe, das weiß Pipi, denn sie hat es entschieden in dem Moment, als sie Tommis Foto aus seinen Glücks-Jahren neben ihrem Nachttisch am Morgen einen Kuss gegeben hat. Er wacht über sie, über ihre Kinder, die im Garten für sie ein Buffet bereitstellen, denn diese 4  Menschen kümmern sich um ihre Mutter, die sie allein großzog, seit sie denken können. Über ihre Enkelkinder, die beim Fest behilflich sind und durch die sie sich bedingungslos geliebt fühlt. Und natürlich über die wunderbar tollenden spielenden, wilden, ungebändigten und sich uneinigen Urenkelkinder, die Pipi an ihre schönste und wichtigste Lebenszeit erinnern.  Tommi wacht auch über seine Schwester, die heute hier ist, obwohl sie gerade eine Trennung durchmacht von einem Menschen, der ihr zuvor einen zweiten oder gar dritten Frühling bescherte. Annikas Augen sind noch feucht und sie will heute stark sein, dass ist Pipi klar, als sie Annika dabei beobachtet wie sie die streitenden Kinder ansieht. Ihre Hände ruhen noch immer aufeinander und in der anderen wird Pipi sich gleich den Zeigefinger verheizen, wenn sie die Zigarette nicht ausmacht. Sie schließt die Augen, nimmt vorsichtshalber nochmal einen tiefen Zug, ehe sie den Glühstengel ausdrückt und wackelt sich die langen, silbrig-grauen Haare hinter die Schulter. Der folgende Satz ist ihr bekannt und zugleich klingt er aus einer anderen Lebenszeit nach: „Ich habe noch nie jemanden gekannt, so wie dich Annika. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne.“

Bild von analogicus auf pixabay

Annikas Kopf wirbelt herum und die beiden sehen einander liebevoll lächelnd an. Die warme Hand Annikas wird schwitzig und Pipi ist augenblicklich froh. Dieser Moment ist von keinem Kopf-Zug der Welt zu zerstören, das spürt sie einfach. Sie fischt sich eine neue Zigarette aus der Packung um diesen Augenblick innerlich heilig zu machen.

„Danke Pipi.“, sagt Annika und ihre Augen funkeln wie die schönste aller dunklen Nächte. Mittlerweile kann Annika sich ebenso mit Komplimenten, als auch mit Selbstbewusstsein kleiden und tut dies mit Anmut und Stolz. Etwas, was Pipi nie erlernen musste, aber sich dank des plötzlichen Schams und der starken Trauer immer wieder bewusst machen darf. Heute umso mehr. Nach einem minutenlangen stillen Blickaustausch schnellen ihre Blicke wieder in Richtung der rennenden Kinder, die jedes Abenteuer der Villa Kunterbunt aus Pipis Abenderzählungen in- und auswendig kennen. Je mehr Worte sie mit ihren Urenkeln wechselt, desto weniger sind im Austausch mit Annika notwendig. 80 Jahre benötigen nicht viele Worte.

Die Zigarette schmeckt gut, sie schmeckt sogar vorzüglich. Der Rauch aus Pipis Mund macht tolle Kringel und dass nun seit etwa 50 Jahren. Natürlich ist Pipi klar, dass bei ihrem Konsumverhalten jeder Tag der letzte sein könnte, was nicht schlimm ist, für einen Menschen wie Pipi, die ihr Leben vollends ausgelebt hat. Irgendetwas in ihrem Herzen sagt ihr, dass Tommi ihr möglicherweise die Erdenzeit verlängert... um sie herauszufordern und ihr neue Erlebnisse zu schenken. Vielleicht hat er einen Vertrag mit ihrer Mutter dort oben im Himmel, die ist dort ja schließlich mittlerweile Profi? Oder mit Herrn Nielsson und dem kleinen Onkel, die ihrer alten Dame den Spaß am Rauchen noch gönnen?! 

Bild von Damián Aldeta Fuentes auf pixabay

„Pipi?“, Annikas Stimme klingt wie ein Lied. Das Leben lehrte sie die Furchtlosigkeit. Etwas, was Pipi durch beratende Worte niemals geschafft hatte.

„Ja?“, Pipis Stimme ist rauchig und klar. Eine Mischung, die vor Lebendigkeit sprüht, weswegen man ihr die Gicht und leichte, altersbedingte Vergesslichkeit niemals ansieht. Es ist ihr Geheimnis mit sich selbst.

„Ich freue mich, dass dir mein Geschenk so gefällt!“

Pippi spürt wie ihr die Tränen hochkommen, als sie vom eindrucksvollen Blick ihrer besten Freundin an sich hinuntersieht. Das blaue Kleid mit den weißen Punkten und den aufgenähten Hosenträgern ist neben dem heutigen Geburtstags-Fest das schillerndste Etwas, was Pipi je besessen hat. „Es beschreibt alles was wir als Kinder in uns hatten. Findest du nicht auch, Annika?“

Annika nickt eifrig und Pipi nimmt noch einen letzten Zug ihrer Zigarette, ehe sie sich selbst ergänzt.

„Es ist alles, was wir sind.“

Bild von Artturi Mäntysaari auf pixabay

Instagram: @lela.heinrich