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Jacky und Clara

Jacky und Clara

Jacky war nicht der Typ für einen vielversprechenden Augenaufschlag. Er gehörte eher zu den Menschen, denen man zutraute, mit einem Dolch zwischen den Zähnen zu schlafen, eine Perserkatze auf dem Schoß, die er mit seinen knochigen Fingern voller dicker Totenkopfringe am Hinterkopf kraulte. Wäre das hier Cuxhaven gewesen oder Hamburg, so wäre Jacky ein Seeräuber gewesen. Aber das hier war Wuppertal. Und außer dem kleinen Flüsschen, dass dieser verschmutzten Häuseransammlung ihren Namen gegeben hatte, gab es hier Wasser nur in Form von Regen. Davon allerdings reichlich. Für ein Seeräuberleben reichte das nicht. 

„Kaffee?“, fragte Jacky unbeholfener, als es zu seiner Visage passte und hielt Clara einen Pappbecher entgegen. Seine Hand zitterte leicht, was nicht von Alkohol oder Drogen kam, worauf man aufgrund seiner Optik leicht hätte schließen können. Es kam von der Übermüdung und dieser elenden Krankheit in seinem Körper. Jacky hatte mehr Haut als Muskeln, musste sich ducken, um unter einem Türstock hindurch zu kommen und in seinen Boots hätte ein Neugeborenes schlafen können. Dass Jacky so gefährlich aussah, hatte ihm in den letzten Jahren zuverlässig Jobs eingebracht. Dass er innendrin weich wie Butter war, das wussten nicht viele, glücklicherweise. 

Clara griff nach dem Becher. Ihr Haar, mit einem elastischen Stoffband aus dem Gesicht gebunden, war auf bunten Plastikwürmchen aufgerollt. Das Gesicht mit einer dicken Schicht Make Up bedeckt. Die Augen wirkten leer und ausdruckslos, anders als sie in einer Stunde aussehen würden, wenn Clara vor die Kamera träte. 

„Danke“, sagte sie kaum hörbar und verschwand im Maskenmobil, einem umgebauten Omnibus, in dem die Schauspielerin für den Dreh frisiert und geschminkt wurde. Jacky hatte inzwischen die siebte Nacht in Folge das Set bewacht, hatte sich die Stunden in seinem Chevy um die Ohren geschlagen, ab und zu eine Runde um das Gelände gedreht, geschaut, ob Scheinwerfer und Vorschaltgeräte noch ordentlich abgedeckt waren, für den Fall, dass einer dieser wuppertaler Regenschauer sie überraschte. Jede Stunde checkte er den Kontakt zu seinen Spezis. Jacky musste immer wissen, wer zu welcher Zeit erreichbar war für den Fall, dass ein paar Wildgewordene das Gelände aufsuchten, um eine Randale-Party zu starten. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Doch bisher ist glücklicherweise nie jemand dabei zu Schaden gekommen. Nicht Jacky, nicht die Randalierenden. Die Waffe, die Jacky im Handschuhfach liegen hatte musste er noch nie gebrauchen. Nicht mal im vergangenen April als in Oberbarmen eine Kulisse beim Überfall einige Kratzer abbekommen hatte. Mit betrunkenen Jugendlichen waren die Frühlingshormone durchgegangen. Setbauer mussten noch vor Sonnenaufgang mit Spachtelmasse und Farbe alles wieder instand setzen. Das hatte ihnen zwar ein paar gut bezahlte Extrastunden eingebracht, geflucht haben sie trotzdem. Bisher war hier alles still geblieben. 

Eigentlich hätte Jacky jetzt Feierabend machen können, hätte mit Eintreffen des Locationscouts nach Hause fahren können, um sich auszuschlafen für die nächste Schicht. Aber da gab es zwei Dinge, die ihn davon abhielten: Clara und die Tatsache, dass das, was noch vor ein paar Tagen sein Zuhause gewesen war, jetzt von seiner Ex und deren Gefolge besetzt wurde. Und schlafen konnte er mit den Schmerzen in den Gelenken ohnehin kaum. Alles was Jacky geblieben war, war sein Chevy, dieser Job und das Gefühl in der Herzgegeben, wenn er Clara morgens den ersten Kaffee aus dem Cateringwagen brachte. Es gehörte nicht zu seinem Job und Clara gehörte nicht zu der Kategorie Darstellerinnen, denen man etwas hinterhertrug. Und schon gar nicht von einem wie Jacky. Clara musste eigenständig zum Set kommen, musste sich wie alle anderen einen Parkplatz suchen, trug eigene Unterwäsche und Kaffee und Brötchen wurden ihr nicht in die Garderobe gestellt. Aber es hatte sich so ergeben, dass Jacky ihr am zweiten Drehtag begegnet war beim Catering, als die erste Kanne Kaffee gerade durchgelaufen war, lange bevor die restliche Crew eintraf. Er war noch da von der Nachtschicht. Sie war schon da, um sich die Haare machen zu lassen. Seitdem wusste er, dass Clara ihren Kaffee ohne Zucker und mit Sojamilch trank. Er dagegen trank ihn schwarz und kippte ihn in einem runter wie einen Schnaps. Dass der Kaffee noch dampfte und ihm die Kehle verbrannt hätte, wäre da noch so etwas wie Gefühl gewesen, störte Jacky nicht. Und dass er nicht wusste, ob das Gefühl, das der Kaffee in seinem Körper verursachte von seiner Hitze oder vom Koffein kam oder von der Tatsache, dass er aus der gleichen Kanne stammte, wie der Kaffee, den Clara trank, störte ihn auch nicht. Aber was ihn störte war dieses Gefühl in der Herzgegend, das so neu war und ihn verunsicherte. Jacky wusste, dass er bei Clara keine Schnitte hatte. Und die Zeiten, dass er sich Chancen bei Frauen ausmalte, waren für ihn abgefahren. Vielleicht hätte er die eine oder andere haben können, aber er hatte das Interesse verloren, wegen Ramona, wegen Timo und wegen dieser ganzen Schmerzen im Körper. Vielleicht hätte alles anders ausgesehen, wenn Jacky vor ein paar Jahren in seinem Leben anders abgebogen wäre. Auch wenn Clara keine Diva war, sich mit kleinen Filmrollen gerade so über Wasser halten konnte, so waren sie doch nicht vom gleichen Kaliber, Clara und er. Clara war gebildet, musikalisch, eloquent. Jacky war ganz alleine mit sich und seinen Gedanken, die er nicht in Worte fassen konnte und keiner verstand. Und jung war Clara, hübsch. Vielleicht würde sie eines Tages sogar erfolgreich werden. Diese drei Attribute machten sie für Jacky unerreichbar. Seine Tage waren längst gezählt und er hatte mehr von ihnen vertrödelt und verpfuscht, als ihm jetzt noch geblieben waren. 

„Kümmern Sie sich um einen Patientenverfügung“, hatte der Arzt ihm geraten. Jackys Patientenverfügung lag im Handschuhfach. Geladen. Und er hätte schon längst Schluss gemacht, wenn da nicht Timo wäre. Und Clara. 

Jacky drückte sich zwischen den Beleuchtern rum, die jetzt nach und nach eintrafen, schroff grüßten und Brötchen kauend ihr Equipment aus dem Laster luden. Niemand durfte zu dieser Zeit ihre Arbeitswege kreuzen. Doch Jacky kannte die Jungs, kannte ihre Handgriffe und wusste, wann es Zeit war, mit anzupacken und wann, sich zurück zu halten und den Männern mit den schweren Geräten, mit Kabeln und Aggregaten aus dem Weg zu gehen, wollte man keinen Ärger bekommen. Jacky war einer von ihnen, war ein Mann, der wusste, wie man einen abgesoffenen Motor wieder ans Laufen brachte und wie man ein Notstromaggregat erdete. Nur wie man eine Frau wie Clara zu einem romantischen Abend ausführte, davon hatte Jacky keine Ahnung. Die Jungs auf dem Licht-LKW fragten Jacky nicht, warum er nach einer langen Nacht nicht nach Hause fuhr, fragte nicht nach Familie, nicht nach Gesundheit oder Zukunft. Diese Jungs waren Jungs, sie benutzten ihre Hände, um damit schwere Dinge zu bewegen und festgefressene Schrauben zu lösen und vor dem Mittagessen sprachen sie nicht viel. Bis eines Tages Ramona auf der Landerampe stand, den kleinen Timo an der Hand. Ihm klebte der angetrocknete Rotz der letzten Wochen an der Nase und seine Windel hin so tief, als sei sie drei Tage nicht gewechselt worden. Ramonas Augen lagen so tief in den Höhlen, dass man nach ihnen suchen musste, wollte man einen Blickkontakt herstellen, was bei ihrem strapazierten Pupillen ohnehin schwer war. Außer der neuen Praktikantin hatten Frauen vor Feierabend nichts auf der Laderampe verloren. Ob Jacky Geld für sie habe, wollte Ramona wissen, drohte damit, den Jungen hier zu lassen, wenn Jacky ihr nicht einen Hunderter rüber wachsen ließe. Jacky ging in die Knie, griff nach den Oberärmchen seines Sohnes und zog ihn an sich. 

„Papa“, sagte Timo leise. 

„Wir beide machen uns jetzt mal gleich einen richtig tollen Tag!“, flüsterte Jacky in das kleine Kinderohr. Timo nickte eifrig und ließ Ramonas Hand los. Jacky fummelte einen Schein aus der Hosentasche, steckt ihn Ramona zu, sagte, dass sie sich verziehen solle, bevor der Oberbeleuchter sie hier entdeckte. 

„Oberbeleuchter geschissen“, sagte Ramona und kam einen Schritt auf Jacky zu. Doch Jacky versuchte nicht, sie zu beknien, vernünftig zu sein, bat sie nicht, ihm zu verzeihen, fragte nicht, ob er wieder nach Hause kommen durfte. Ramonas Augen zogen sich noch weiter zurück, wurden feucht, dann liefen erst Tränen, dann kam die unbändige Wut zum Vorschein, von der Ramona in kurzen Abständen erfasst wurden, und die eine solche Wucht hatte, dass sie alles Leben um sie herum zum Erliegen brachte. Erst war es ein Brüllen, hohe Töne, die in den Knochen schmerzten, dann ein Schrei, der einen Ausbruch von Energie mit sich brachte. Ramona trat mit ganzer Kraft gegen das Stativ der 20KW, so dass Jacky sich vorstellen konnte, dass sie sich sicher mal wieder einen ihrer verkrüppelten Zehen dabei gebrochen hatte. Dann wurde ihr verbrauchter Körper von einem Schütteln erfasst, das ihn zu Boden sinken ließ. Der Scheinwerfer zitterte und klirrte leise, dann hielt er wieder still. Ein Beleuchter nahm Ramonas Arm, half ihr auf die Beine. 

„Süße, du versperrst den Arbeitsweg!“ So viel war schon lange nicht mehr gesprochen worden auf der Laderampe der Beleuchter vor dem Mittagessen. Ramona zog das T-Shirt runter, dass ihr über den Bauch gerutscht war und eine ausgefranste Tätowierung freigelegt hatte. Dann ging sie, ohne sich noch mal nach Jacky und Timo umzudrehen davon. 

„Tschüß, Mama“, sagte Timo so leise, dass nur Jacky es gehört hatte. Und Clara. Sie stand in der Tür des Maskenmobils, hatte alles mit angesehen. Ihr Haare fielen ihr jetzt in barocken Locken auf die Schulter. Ihre Augen waren groß und von einer Strahlkraft, die Jacky die Luft zum Atmen nahmen. Sie steckte wieder in dem blauen Kleid, das ihre Hüften umspielte und unter dem sich ihr Bauchnabel abzeichnete. 

„Der braucht mal ne frische Hose, wie´s aussieht.“, bemerkte Clara trocken. Dann folgte sie der Setaufnahmeleiterin Sammy hinein ins Set. Jacky hatte sie gestern durch das Fenster beobachtet, als die Kamera lief, wie sie in der Küche gestanden, wütend mit den Fäusten auf den Tisch geschlagen hatte, weil ihr Mann nach der Nachtschicht nicht nach Hause gekommen war. Mit der Sekretärin durchgebrannt. Mal wieder. Clara hatte die Haare links gescheitelt. Am Rücken wurde das Kleid mit Wäscheklammern so zusammengehalten, dass ihre schmale Taille zur Geltung kam. Darauf legte sie wert, auf sonst nicht viel. Sie spielte jede Rolle, war sich für nichts zu schade, schwamm bei Kälte durch den Ärmelkanal, raste mit einem runtergekommenen Opel Manta durch die Innenstadt, entsteig einem Gully und wälzte sich im Dreck, wenn es die Rolle erforderte. Dafür liebten sie die Regisseure. Dafür liebte sie Jacky. Und Clara liebte Jacky. Aber davon hatte sie selbst nichts gewusst. Bis zu dem Moment, als Jacky auf dem Licht-LKW stand und Timo die Windel bis zu den Knien hängen hatte, bis zu dem Tag als Ramona verkündete, dass Jacky ihr Leben zerstört habe, schon als er geboren wurde und sie noch nicht gezeugt war, dass er lieber schneller als langsamer verrecken möge und dass er sich um seinen gottverdammten Sohn kümmern solle, damit sie endlich ihr Leben leben könne, jedenfalls das, was davon noch übrig sei. Clara hatte Jackys blaue Augen gesehen, hatte eine leise Melodie gehört, die von seinem Herz ausging und konnte die Augen nicht von dem lassen, was zwischen ihm und dem kleinen Timo hin und her zu strömen schien. In diesem Augenblick hatte Clara angefangen Jacky zu lieben. Jetzt erinnerte sie sich an all die Kaffeebecher am Morgen, die er ihr gereicht hatte lange vor Sonnenaufgang. 

„Wer ist der Typ mit den Piercings?“, fragte Clara Sammy und nickte mit dem Kopf Richtung Fenster. Sammy verdrehte die Augen. Sie ließ sich nicht gerne verarschen. 

„Du kennst doch Jacky! Unsere Setwache. Ohne ihn wäre das hier längst abgefackelt.“ Clara blickte in ihren Requisiten-Kaffeebecher, aus dem sie nur trinken durfte, wenn die Kamera lief. 

„Abgefackelt, ja?“

„Hmhm.“

„Wir machen drehfertig.“

Die Maskenbildnerin platzierte eine von Claras Haarsträhnen auf ihrem Brustkorb. Die Garderobiere strich eine Rockfalte glatt. Der Requisiteur drehte die Kaffeetasse so, dass der Henkel zu Clara zeigte. Claras Blick wanderte zum Fenster Sie ahnte, dass Jacky vermutlich schon mehr Leichen in seinem Leben gesehen hatte, als Clara Leute, die sich Filmtote ein paar Euro dazuverdient hatten. 

„Alle auf Anfang!“, sagte der Regieassistent. Clara richtete ihr Rückgrat auf und ihr Augen auf den imaginären Spielpartner, der in dieser Einstellung nicht im Bild war und erst in einer Stunde am Set erwartet wurde. Einer dieser hochbezahlten Darsteller, um die sich die ganze Tagesdisposition rankte. 

„Und, bitte!“ Clara schob die Kaffeetasse zur vereinbarten Stelle, griff in die Tischschublade, nahm den Revolver heraus und richtete ihn dorthin, wo später der Kollege sitzen sollte. 

„Das war´s mit uns beiden!“ sagte sie und achtete darauf, die S-Laute nicht zu sehr zischen zu lassen. Dann zog sie den Abzug durch. Leises Klicken. Der Rest würde in der Nachvertonung erledigt. 

„Danke.“, verkündete der Regiesseur, was so viel hieß wie: Die Einstellung war im Kasten und das Set musste umgeleuchtet werden. Zeit für frische Luft. Draußen. Da wo auch Jacky und Timo waren. 

Jacky löste den Blick von der Szene hinter dem Fenster. Er kannte das Gefühl, eine Waffe in der Hand zu halten, sie auf jemanden zu richten. Abgedrückt hatte er bisher nur auf dem Schießplatz, aber ausgemalt hatte er sich schon oft den Moment, sich die Waffe  in den Mund zu stecken und „Peng!“ Vorbei. Clara hatte noch nie daran gedacht. Für sie war das eine Rolle wie jede andere auch. Aber abdrücken? In Echt? Nein, das gehörte nicht in ihr Leben ohne Kamera. 

Jacky nahm den Jungen und ging mit ihm rüber zum Chevy. Es wurde Zeit für Feierabend. Vielleicht machten sie einen Ausflug zusammen, in den Wald oder zur Pferdekoppel, aßen eine Pizza oder einen Burger.

„He, wo wollt ihr denn hin?“, fragte Clara. Jacky drehte sich um. 

„Nach Hause“. Jacky hielt Timo fest an der Hand mit seinen knochigen langen Fingern. 

„Der Junge kann nicht im Auto wohnen.“ Clara griff in ihre Tasche und streckte Jacky ihre ausgestreckte Hand entgegen, darin ein Schlüssel. 

„Bachstraße 15. 3. Stock links. Im Kühlschrank gibt es noch Nudeln mit Sosse. Sind von gestern.“ 

Jacky schaute Clara an. Clara schaute Jacky an. Wenn er nur ein bisschen von Claras Begabung als Schauspielerin gehabt hätte, wäre jetzt der Moment gewesen für einen vielversprechenden Augenaufschlag. Aber stattdessen schaute er einfach hinein in Claras Augen, geradeaus und ungeschickt, und einen Moment wünschte er sich, er wäre ein Seeräuber auf Landgang, in Cuxhaven oder Hamburg, einen Dolch zwischen den Zähnen, einer der sich einfach nimmt, was ihm gefällt. Jacky streckte seine Finger aus nach den Schlüssel in Claras Hand. 

„Du hast einen gut bei mir.“, sagte er und räusperte sich. Clara nickte, verschwand im Maskenmobil und zog die Tür hinter sich zu. 

„Die Bachstraße ist eine gute Straße, um eine volle Windel zu wechseln und Nudeln zu essen.“ Jacky nahm Timos Hand und sie machten sich auf den Weg zum Auto. Und das erste Mal seit Monaten überlegte Jacky, ob er sich von der Waffe aus dem Handschuhfach trennen sollte, jetzt wo Timo bei ihm und er auf dem Weg in die Bachstraße war.