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Der Arbeitsplan

Das Glasväschen auf dem Marmorfensterbrett zitterte. Ein Schwall zurückgehaltener Energie hatte sich mit einem Schrei brutal in die zerbrechliche Praxis ergossen. Die Therapeutin starrte mich an. Dann strich sie sich mit kantigen Bewegungen die dünnen Haare aus dem Gesicht. 

„Ich kann nichts mehr für Sie tun.“ 

Eine Woche später. Wieder Freitag. Es regnete. Mit einem Rucksack voll guter Vorsätze und einem Packen Bewerbungsunterlagen schwang ich mich auf mein Fahrrad. Ich hatte auf meinem Stadtplan mit rotem Stift die Adressen all jener Firmen umkringelt, die mir im Medienhandbuch interessant vorgekommen waren. Manche hatten schöne Namen wie Zeitsprung, Brainpool oder Schnittstelle. Andere lagen in einer Straße, die ich kannte oder die auf meiner Route lag. Wieder andere Firmen hatte ich ausgesucht, weil in ihrem Profil Filme genannt waren, deren Plakate ich in den Kinoschaufenstern gesehen hatte. Heute kam es drauf an. Ich musste dem Urschrei Taten folgen lassen, wenn ich nicht bald wieder einer Therapeutin gegenübersitzen wollte, um auch ihr wieder all das zu erzählen, was in meinem Gehirn herumschwirrt und dort sein ungezügeltes Unwesen treibt. Ich musste einen Praktikumsplatz finden! Sonst würde ich das Studium nicht überleben! Sonst würde ich das hier alles nicht länger aushalten. In den vier Semestern an der Uni war mir klar geworden, dass Hausarbeiten, Zitate und Fußnoten nicht meinen Weg zu einem erfüllenden Job pflastern würden. Es wollte sich mir kein Sinn erschießen, warum es zu beweisen galt, dass ich clever genug war, um herauszufinden, was an welcher Stelle in welchem Buch stand. Aber das Studium ist meine letzte Chance, einen seriösen Berufsabschluss zu erlangen, dachte ich. Wenn ich das Gelernte direkt anwenden kann, dann wird auch das Studieren endlich Spaß machen, setzte ich dagegen und fertigte im Copyshop drei Dutzend Bewerbungsdublikate an. Aber alles sollte anders kommen.  

Der Regen perlte von meiner Kapuze. Zehn-, elf-, zwölfmal schloss ich mein Fahrrad an Laternen fest, klingelte an Fabriketagen, mal rechts mal links vom Rhein, setzte meine nassen Füße auf hochglanzpolierte Marmorböden und überreichte meine Unterlagen Studentinnen, die mir mit ihrem dümmlichen Grinsen zu verstehen gaben, dass sie schneller waren als ich und sich bereits auf einem der begehrten Praktikumsplätze breit gemacht hatten. Ja, man würde sich bei mir melden. Ja, Praktikanten würden immer gebraucht. Nur gerade nicht jetzt… hörte ich. Inzwischen war aus dem Regen ein Guss geworden und durch die Straßen rannen kleine Bäche. Meine Kapuze hatte ihre Funktion eingestellt. Die Haare klebten mir am Kopf und Wasser rann mir von der Nasenspitze. Ich fror. Aber da war noch eine letzte Bewerbung im Rucksack. Zwar schon leicht feucht, aber noch lesbar. Ich war kurz davor, meine Route abzubrechen und nach Hause zu radeln. Aber da hatte ich nicht mit meinem inneren Feldwebel gerechnet. 

„Das ziehst du jetzt durch!“, befahl er. Und ich gehorchte. Ich paddelte mit meinem roten Dreigänger den Ring hinunter, kreuzte bei Rot den Barbarossaplatz und ließ das Kloster der Karmelitinen hinter mir. Kölner Südstadt. Kartäuserwall. Visuelle Film- und Fernsehproduktions GmbH. Das war mein letztes Ziel. Irgendwas mit Frau TV und Emma hatte ich im Handbuch gelesen. 

Mit einem finalen Schauer spie der Himmel alles aus, was er noch intus hatte und ergoss sich über die Südstadt und mich. Der rote Kringel auf meinem Stadtplan schmolz dahin und das Papier troff zu Boden. Ohne mein Rad abzuschließen rettetet ich mich in das Gebäude und fand mich vor einem Tresen wieder: Eine stählerne Filmrolle, darauf eine surfbrettförmige Tischplatte. Dahinter eine Dame, rotes Haar, sommersprossig und knopfäugig, die mich überrascht anschaute. 

„Ach, Kindchen. Wo kommst du denn her bei dem Wetter!?“. Ihre Stimme klang vertraut süddeutsch. Unter mir hatte sich eine Pfütze gebildet. Die Frau sprang auf, nahm mir Jacke und Rucksack ab, versorgte mich mit Handtuch, heißem Kaffee und Schokokeksen. Dann teilte sie ihrer Chefin hinter einer Glastür mit, dass sie eine neue Praktikantin einzustellen habe, schließlich sei diese bei dem Wetter mit dem Fahrrad hergefahren. Eine die sowas macht, die meint es ernst. Eine Bewerbung habe sie auch dabei, aber die müsse man bis morgen erstmal zum Trocknen aufhängen. Die Chefin hatte keine Zeit, warf einen Blick durch die Tür, nickte und schickte die Mitarbeiterin aus dem Büro. 

In den nächsten Wochen sortierte ich die Ordner in der Redaktion, erlangte das kleine Kaffee- und das große Kopierdiplom und lernte die unzähligen Knöpfe am Schnittplatz kennen. In den nächsten Monaten rannte ich mit Funkgerät und Headset durch die TV-Studios der Stadt, übte mich im Umgang mit dem ersten mobilen Firmentelefon, steuerte Kleinbusse und parkte Equipment-LKWs in enge Altstadtgassen. In den nächsten Jahren verhandelte ich mit Locationvermietern, fertigte komplexe Drehpläne zu noch komplexeren Comedyserien an und ersann ein System, mit dem man Praktikanten schnell und effektiv einlernen konnte. Nur das mit dem Studieren, das hatte ich seit jenem Freitag aus den Augen verloren…