Sichtkontakt

Die Eltern waren Wandern gegangen. Wir Kinder waren im Ferienheim geblieben, uns selbst überlassen; in der späten Hippiezeit nichts Außergewöhnliches. Es war ihr Glück, dass die Eltern unterwegs waren, denn heute war kein gewöhnlicher Tag auf dem Fehrenbacherhof. Der Tag eines furchtbaren Verbrechens war gekommen.

 

Während wir uns so ganz ohne Aufsicht in der Sonne langweilten, rollte ein sandfarbener PKW auf den Hof. Ein Opel mit Stufenheck in der Farbe von ungebackenen Pizzateig. Kein Vater fuhr so einen Wagen. Tobias hatte den Eindringling als erster entdeckt und Tobias hatte als erster gewusst: mit dem stimmt etwas nicht.

 

Er trommelte alle Kinder zusammen und erläuterte uns im Speisesaal den Ernst der Lage: Ein Verbrecher hatte sich auf unsere Gelände gewagt um hier oben einen blutrüstigen Mord vorzubereiten, soviel stand fest.

 

„Wir müssen handeln“, entschied Tobias und zeichnete mit schwungvoller Hand einen Lageplan auf eine Bahn Computerpapier. Da ich mich zu jener Zeit mit Mördern nicht besonders gut auskannte, war ich froh, dass wenigesten einer wusste, was in einem solchen Fall zu tun war. Tobias wies jedem seine Position zu. Alle hörten auf sein Kommando, schließlich ging es darum, ein schlimmes Verbrechen zu verhindern.

 

Die mustigsten Kinder shen sich den Mann aus der Nähe an, entschied Tobias. Alle anderen, also die, die noch nicht zur Schule gingen, verteilten sich auf sichere Beobachtungsposten und wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass ihre Aufgabe von höchster Wichtigkeit für die Operation sei. Ich wusste nicht, was ein Mörder und eine Operation miteinander zu tun hatten, aber ich wusste, dass ich jetzt keine dummen Fragen stellen durfte und bezog meinen Posten unter dem Dach.

 

Hier oben herrschte eine Hitze wie im stinkenden Schlund eines Feuer speienden Drachens. Die Angst hämmerte von innen gegen meinen Brustkorb, als wollte sie ihn auseinandersprengen und auf- und davonlaufen. Aber hier gab es kein Entkommen. Ich starrte auf das beigefarbene Auto auf dem Hof unterhalb des Giebelfensters. Keine Sekunde würde ich es aus den Augen lassen. Das hatte ich Tobias versprochen.

 

 

 

 

 

 

Ich sah, wie der Mann erst einen Spaten, dann eine große Sense aus dem Kofferraum seines Wagens holte und damit hinter der Scheune verschwand. Mir schauderte. Es war das erste Mal, dass ich einen echten Mörder sah. Kurz darauf näherten sich Tobias und die anderen dem Auto. Hannes stand Schmiere, falls der Mann zurückkommen sollte. Tobias zeigte mir seinen erhobenen Daumen, dann öffnete er die Fahrertür, suchten den Fußraum und das Handschuhfach ab, fand darin einen geschmolzenen Schokoriegel, allerhand Kassetten und Papierkram und ein Päckchen Kaugummis, das die Kinder untereinander aufteilten. Dann war der Kofferraum dran. Diverse Sägen, Zangen und Scheren tauchten auf. Damit würde er seine Opfer zerstückeln. Verschiedengroße Säcke, um die Leichenteile wegzuschaffen. Ein Benzinkanister, um die Ermordeten zu verbrennen und so jede Spur zu verwischen. Und dann war da noch die Cola Flasche. Tobias öffnete sie, roch daran und trank einen großen Schluck. Vermutlich wollte er ganz sicher sein, dass es Cola war und nicht Schnaps oder Spiritus. Es gab keinen Zweifel mehr. Der Mann war ein Mörder.

 

Hannes pfiff und die Jungs klappten den Kofferraumdeckel und die Autotüren zu und sausten davon. Ich zappelte von einem Bein auf das andere, machte mir vor Aufregung fast in die Hose und der Schweiß rann mir an der Wirbelsäule hinunter und versickerte in meiner Poporitze. Hundert Grad hatte es unter dem Dach, tausend Grad in meinen Blutgefäßen.

 

Und dann kam er. Der Mörder. Er schlurfte mit schwerem Gang und gesenktem Kopf zu seinem Auto, holte sich die Cola aus dem Kofferraum, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, lehnte sich gegen die Seitentür und trank in großen Schlucken. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab wie ein Fisch im Schlund eines Pelikans.

 

Cola. Sehr verdächtig. Cola tranken Amerikaner und Leute, die gerne Amerikaner wären. Und Mörder. Von uns trank niemand Cola. Wenn ich damals schon hätte schreiben können, hätte ich mir all diese Beobachtung in mein Beobachtungsheft notiert und mich dabei wichtig gefühlt. Aber ich konnte nur die vier Buchstaben meines Namens. Und die reichten für meine Notizen nicht. Und ich hatte kein Beobachtungsheft. So fühlte ich statt detektivischer Wichtigkeit weiterhin nur Angst, Hitze und den ungeheuren Drang, Pipi zu machen.

 

Als der Mann den letzten Schluck aus der Flasche in seine Kehle laufen ließ, legte er den Kopf weit in den Nacken und schaute zu mir hoch. Unsere Blicke trafen sich. Nur ganz kurz. Mir blieb vor Angst die Luft weg. Der Mörder stellte die leere Cola Flasche auf das Dach seines pizzateigfarbenes Autos und verschwand wieder hinter der Scheune. Dann passiert lange nichts.

 

 

 

 

 

 

Sehr lange passierte nichts, es war nichts zu hören, außer dem Zirpen der Grillen und dann und wann das Jaulen eines Motorrades im Tal. Mich beschlich die Angst, der Mörder könnte alle Kinder hinter der Scheune umgebracht haben, Tobias, Martin, Hannes und die anderen, zersägt und in Säcke verpackt. Ich war die einzige Überlebende. Noch. Denn gleich würde er auch zu mir hochkommen und mich zerkleinern.

 

Bis zum Abend hockte ich da oben unter dem Dach, unter dem sich die Sommerhitze staute, bis zum Abend zeigte sich niemand mehr in meinem kleinen Ausschnitt der Welt. Als die Sonne hinter den Tannen verschwand, drang Stimmengewirr und Gelächter zu mir hoch. Die Erwachsenen waren zurück! Ich musste sie warnen, musste ihnen sagen, dass ein Mörder alle Kinder getötet hatte und als nächstes auch sie zerstückeln würde.

 

Vorsichtig schlich ich die Treppen hinunter und auf den Hof: Mütter und Väter hatten ihre Schuhe und Socken abgestreift, tranken Bier aus Flaschen, Wein aus Saftgläsern und redeten durcheinander. Jemand hatte einen großen Berg belegte Brote auf einen Tisch gestellt und es gab Limonade in Glaskrügen. Tobias und die anderen spielten Federball und malten den Hof mit Kreide an, als wären sie nie ermordet worden. Und mitten unter all den Leuten saß er, der Mörder. Ich winkte Tobias heran und wollte wissen, wie sie dem Mann mit den Mordwerkzeugen entkommen waren und was als nächstes zu tun war. Tobias pustete zwei Luftstöße aus den Nasenlöchern und sagte: „Mann, das ist der Gemeindegärtner. Er hat die Hecken zurückgeschnitten.“ Dann ging er zurück und machte seinen Aufschlag.

 

Der Gemeindegärtner? Kein Mörder? Und da dämmerte mir: sie hatten mich da oben vergessen. Keiner hatte mich vermisst... in der späten Hippiezeit nichts Außergewöhnliches.