Kürbiskerne

Meine Mutter hatte einen großen Garten. Eigentlich hatten wir alle einen großen Garten. Oder sollte es eher heißen: jeder von uns hatte einen großen Garten? Denn unsere Gärten unterschieden sich stark voneinander. Während mein Garten aus einer wilden Spielwiese mit einem Schaukelgestell bestand, einem alten Schuppen, auf dessen Dach man sich hervorragend verstecken und später heimlich Zigaretten rauchen konnte, so war der Garten meiner Schwester ein Paradies aus Kletterbäumen. Besonders die ganz hohen mochte sie, solche, auf die ich nie hochgekommen wäre, solche, auf denen sie ganz alleine von oben auf die Welt herunterblicken konnte. Wie gerne hätte ich gewusst, wie es von dort oben aussieht! Wie gerne hätte ich gewusst, was es dort oben zu entdecken und erleben gab! Aber ich schaffte es nie weiter als bis zur ersten Astgabel, ehe mich der Mut verließ. Der Garten meines Bruders diente vor allem dazu, sein Fahrrad darin abzustellen. Nachdem er das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte, hatte er den hinteren Teil Gartens meines Wissens nie mehr betreten. Papas Garten war beseelt von bestaunenswerten Wildkräutern, kleinen Tierchen mit noch kleineren Beinchen. Ein Biotop, das man voller Hochachtung den eigenen Wirkkräften überließ. Wehe dem, der einen Halm gedankenverloren beim Vorbeigehen abriss oder als Unkraut titulierte! Jedes Pflänzlein hat seinen Platz und seine Daseinsberechtigung im Garten meines Vaters. Der Garten meiner Mutter bestand in erster Linie aus Arbeit. Es gab Beete mit Blumen, die geharkt und gegossen werden mussten, Beete mit Gemüse, das es vor Schnecken zu verteidigen galt. Es gab eine Wäscheleine, an der bunte Kleidungsstücke flatterten, die meiner Mutter durchs Küchenfenster zuwinkten, wenn sie sich der Arbeit im Haus annahm. Und es gab jede Menge Obstbäume. Diese wollten im Winter geschnitten und im Frühling oder Herbst abgeerntet werden. Geräte gehörten in den Schuppen! Mülltonnen auf den Stellpatz hinter dem Zaun. Im Garten wuchsen Pflanzen, die meine Mutter mit geheimnisvollen Namen ansprach: Atlasblume und Gloxinie, Purpurtute, Rittersporn, Ackerbohne, Güldengünsel, Pastinake, Rote Bete. Von letzterer bin ich übrigens weiterhin der Meinung, ihr fehle eine E zur richtigen Orthografie. Dank dicker Wälzer wurde jedes unbekannte Blatt von meinem Vater analysiert und kategorisiert und nach Herkunft und Verwandtschaft zu ähnlichen Artgenossen untersucht. Meine Mutter versorgte all das, was sie im Garten sehen wollte, gleichermaßen mit Brennesseljauche. Diese schöpfte sie aus einem großen, stinkenden Fass, mischte sie mit Regenwasser und verteilte sie großflächig über ihre Schützlinge. Pflänzlein, die sie hingegen nicht im Garten sehen wollte, riss sie mit energischen Handgriffen heraus und drohte ihnen mit Unheil, sollten sie es wagen, nachzuwachsen. Dabei war sie natürlich sehr bemüht, dass Papa sie dabei nicht sah. Gelegentlich verirrten sich Gewächse und Geschöpfe in Mamas Garten, die waren von besonderer Gestalt und deren Namen fand man nicht so leicht im Lexikon der heimischen Flora und Fauna. Und diese wurde auch weder herausgerissen noch mit stinkender Brühe gewässert. In den unerreichbaren Wipfeln von Birnbaum, Birke und Fichte stob ein stattlicher Schwarm grüner Sittiche umher. Diese waren damals in Deutschland noch eine Seltenheit. Inzwischen siedeln sie in jedem Stadtpark. Und überall erzählt man sich die gleiche Geschichte von den entflogenen Vögeln, die sich selbst ausgewildert haben. Lediglich lokale Abweichungen lassen die Geschichte an jedem Ort einzigartig erklingen: ausgebüchst seien sie, die Sittiche, aus dem Zoo, dem Züchter mit der großen Voliere sind sie davongeflattert, von einem überforderten Vogelhalter freigelassen worden. Seitdem vermehren sie sich und überwintern sogar, heißt es beim Bäcker oder in der Skatrunde. Obwohl ich als Kind schon Zeugin dieser giftgrünen stimmgewaltigen Papageienvögel mit knallrotem Schnabel war, die die Obstbäume im Garten meiner Mutter überfielen, obwohl ich schon diverse Versionen der Geschichte gehört hatte und langsam daran zweifelte, dass überhaupt eine davon wahr sein konnte, so wurde ich vor Kurzem wieder mit einer neuen Version der Mär rund um das exotische Federvieh überrascht: die Vögel im Gebälk der Schule meiner Kinder kämen nur im Bonner Norden vor und seien beim Zoll am Flughafen ausgebrochen und schnurstraks zur Waldorfschule geflattert. Aber neben den Sittichen gab es noch andere wunderliche Besucher hinter dem Haus. 

Auch das folgende Geschöpf fühlte sich in Mamas Garten willkommen und war nicht im Bildatlas verzeichnet. Ich hatte es selbst mit eigenen Augen bestaunen dürfen und daher bin ich davon überzeugt: es war wirklich da. Auch wenn es selbst vielleicht inzwischen nichts mehr davon weiß. 

Eines milden Herbstnachmittags, als meine Mutter die Tischdecke aus dem Verandafenster schüttelte, um den Vögeln die restlichen Kürbiskerne zu überlassen, die vom Kochen übriggeblieben waren, fiel ihr Blick auf die Blumenrabatte. Zwischen Dahlien und Dornen lag ein Wäschestück, das sie am Tag zuvor auf die Leine gehängt hatte. Komisch nur, dass nichts nach Sturm oder Unwetter aussah! Socken, Hemden und Handtücher hingen noch wie zuvor! Während ich noch darüber nachdachte, wie der gemusterte Bettbezug in Mamas Beet geraten sein konnte, hatte sie den Zusammenhang offensichtlich bereits erfasst. Sie lief zu meinem Vater, der hinter seinem Schreibtisch thronte und sich geschäftig den Bart kratzte, und bat ihn, sich um den Bezug zu kümmern. Das war sonderbar. Mein Vater war weder für das Beet zuständig, noch für das Stück Stoff, das sich dahinein verirrt hatte. Und helfen ließ sich meine Mutter zu jener Zeit in Dingen des alltäglichen Lebens von ihm eigentlich nie. Es dauerte ihr einfach zu lange, bis sich ein Zeitfenster im Arbeitsplan meines Vaters öffnete, um ihr mal eben zur Hand zu gehen. Aber in diesem Fall verhielt es sich anders. Die Sache mit dem Bettbezug sollte mein Vater regeln. Jetzt sofort. Verträumt schaute ich aus dem Verandafenster in Erwartung dessen, wie Papa das Laken aus den Dornen fischen würde und ließ die letzten Kürbiskerne in den Garten flitschen. Statt den Stoff nur einfach auf die Leine zurück zu hängen, tastet sich mein Vater vorsichtig zu dem Bündel vor, als könnte es aufspringen und ihn anfalle. Er sprach sogar mit ihm. Das wiederum kannte ich von seinem Umgang mit Krabbeltieren aller Art. Und da! Plötzlich regte sich der Stoff tatsächlich! Ein verschlafener Mann mit struppigem Haar kam zum Vorschein, richtete seinen Oberkörper auf und schaute sich verwundert um. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Die Männer wechselten ein paar Worte. Dann waren sie sich einig. Der zottelige Typ verschwand wieder unter dem Laken und Papa verschwand in seinem Zimmer. 

„Wer ist das? Was macht der Mann in meinem Beet?“, wollte Mama wissen. 

„Er hat gestern ein bisschen viel getrunken. Also haben seine Freunde ihn in deine Rabatte gebettet. Er schläft noch seinen Rausch aus und macht sich dann auf den Heimweg!“ 

Tatsächlich war der Mann noch vor dem Abendbrot verschwunden. Alles was von ihm geblieben war, war eine niedergetrampelte Stelle im Blumenbeet. Schon nach ein paar Tagen war ich mir nicht mehr sicher, ob da draußen tatsächlich ein Mann gelegen hatte… oder ob das auch nur so eine Geschichte war wie die von den grünen Sittichen. Ein Jahr später hielt meine Mutter einen Brief in den Händen, der an einem Blumenstrauß geheftet war. Der Mann, aus den Rabatten, der sich als stadtbekannter Anwalt entpuppte, entschuldigte sich darin, ihr Beet zerdrückt zu haben und bot eine Entschädigung an. Lachend platzierte meine Mutter die Blumen auf dem Verandatisch. Im Beet erinnerte längst nichts mehr an den ungewöhnlichen Übernachtungsgast. Da, wo der Unbekannte sich niedergelegt hatte wuchsen Herbstastern und Husarenköpfchen. Mama schnupperte an den Bouquet und schaute interessiert den Sittichen nach, die sich mal wieder im Birnbaum niedergelassen hatten, als sähe sie diese zum ersten Mal.  

„Ob sie hier überwintern können?“, überlegte sie. Aber was war das? Da oben im Birnbaum wuchsen merkwürdige Birnen. Orange waren sie und ungewöhnlich groß. Dabei war die Birnenernte doch längst vorbei! Da der Birnbaum eine stattliche Höhe hatte und noch nicht einmal von meiner Schwester erklommen werden konnte, holte mein Vater Bildband und Fernglas und stellte fest: im Baum wuchsen keine Birnen. Kürbisse waren daran hoch Richtung Sonne geklettert.