Dringlichkeit

 

Wo ist sie eigentlich hingekommen, diese Dringlichkeit, die mich nicht stillsitzen ließ, die nachts von innen gegen meine Schädeldecke klopfte und mich vom Schlaf abhielt, diese Dringlichkeit mit der ich als Teenager bis unter die Haut angefüllt war?

 

Ich kann mich nicht erinnern, als Erwachsene noch mal dieses starke Gefühl unausweichlicher Mitteilungsnot erlebt zu haben. Kein Wenn, kein Aber. Jeden Morgen stand ein neuer aufregender Tag bevor, der nur dazu gemacht war, neuste Neuigkeiten auszutauschen.. Quatschen. Quatschen. Quatschen. Das schien der neue Sinn des Lebens zu sein, seitdem unserer Lust am Spiel verflogen war. Ich fühlte mich dabei herrlich vom Leben durchflutet. „Hast du schon gehört? Weißt du schon das Neuste?“ Die Musiklehrerin wurde mit dem Referendar Arm in Arm auf dem Weihnachtsmarkt gesehen! Amelie aus der Neunten hat sich die Haare abrasiert, nur um ihre spießigen Eltern zu schocken! Und Tobias idiotischer Cousin, dessen Namen sich keiner merken kann, hatte sich einen Finger gebrochen beim Versuch einen Kaugummiautomat zu knacken. Wie kann man nur so dämlich sein? Das war das Material, aus dem unsere Realität gemacht war. Nicht aus Wahrscheinlichkeitsberechnungen oder Interpunktion und schon gar nicht aus unregelmäßigen Verben.

 

Schon morgens auf dem Schulweg ging es los: wir rissen das Wichtigste in Kürze an, was sich seit dem letzten Widersehen ereignet hatte und führten es während des Unterrichts tuschelnd oder mittels Zettelpost weiter aus. Für ausführliche Kommentare bot sich die Pause an, auch wenn sie dazu viel zu kurz war. Das war der eigentliche Sinn von Schule. Alles andere war Beiwerk. Wer über wirklich spannende Informationen verfügte, war in der Clique hoch angesehen und bildete den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nicht wer Null Fehler im Diktat hatte. Der Zauber der zu berichtenden Sensation sprang förmlich von der Geschichte direkt auf die Berichterstatterin über, als hätte sie selbst den doppelten Salto geturnt, von dem sie gerade erzählte. Ein wirklich königliches Gefühl. Mir wurde  es nicht allzu oft zuteil. Meistens verfügten die anderen über die spannenderen Geschichten! 

 

 

Wer nicht nur eine spektakuläre Nachricht zu verkünden hatte, sondern auch noch die Kunst beherrschte, sie mit ein paar zusätzlichen Details zu einem Meisterwerk aufzuplustern, konnte ihren Marktwert auch noch bis weit über die Klassengrenzen hinweg nach oben treiben. Eigentlich ging das ganz einfach: aus der Beschreibung einer zaghafte Berührung zauberte man einen innigen Kuss, der verstauchte Finger mutierte zur klaffenden Wunde und aus dem Mecki wurde ruckizucki eine Vollglatze geschoren. Wenigstens verbal. Köpfe zusammen stecken und los ging´s. Aber alles ultrastrenggeheim. „Du darfst das keinem sagen!“, beschwor ich meine vertraute Zuhörerin. Und die nächste auch. Und die übernächste. Geheimstufe Rot war der absolute Garant dafür, dass eine Nachricht sich so schnell verbreitete, wie es heute nur das Internet vermag.

 

Ich vermute, dass die Teenager im Jahr 2016 das gleiche erleben, wie wir damals, nur sehr viel schneller. Dank WhatsApp, Facebook, SMS müssen sie nicht warten, bis sie sich am nächsten Morgen auf dem Schulhof wieder sehen, um los zu werden, dass Tina einen neuen Macker hat. Was aber, wenn um zwei vor acht im Klassenzimmer schon alle Bescheid wissen? Haben die Teenies dann Zeit gewonnen? Zeit, die sie möglicherweise mit Unterrichtsstoff füllen?

 

 

   (Ich lache, überlege, schüttele den Kopf, lache noch mal und schreibe weiter) Ich vermute, sie reden darüber, was sie in der Zwischenzeit alles im Netz gesehen, gehört,  gelesen und kommentiert haben. Und das muss ganz dringend und sofort geteilt und ins eigene Profil hochgeladen werden. Liken nicht vergessen! Je mehr Likes, desto cooler bist du unterwegs. Also: alles beim Alten. Während ich das hier schreiben, greife ich nach meinem Handy, verfasse eine kurze Nachricht an meine Schwester, dass der Text bald fertig ist und ob sie ihn noch mal lesen will, bevor er online geht. Und da bemerke ich sie. Die Dringlichkeit. Sie ist doch noch da. Aber ich muss schnell sein, schneller als mein Nachrichtenfinger, wenn ich sie heute zwischen all den Informationen noch fühlen will.